Krise im Irak eskaliert dramatisch schnell

"Man war total überrascht"

Die Situation im Irak eskaliert: Beim Vormarsch islamistischer Milizen gab es offenbar Hunderte Tote, zahllose Menschen sind auf der Flucht. Internationale Hilfsmaßnahmen laufen an. Matthias Vogt von missio schildert im Interview die dramatische Situation.

Flüchtlinge im Irak (dpa)
Flüchtlinge im Irak / ( dpa )

domradio.de: Wie bewerten Sie die aktuellen Entwicklungen?

Dr. Matthias Vogt (Islamwissenschaftler und stellv. Leiter der Auslandsabteilung vom katholischen Missionswerk missio in Aachen): Es ist eine ganz dramatische Situation in Mosul und auch im Zentral-Irak. Es waren alle überrascht, mit welcher Leichtigkeit die Truppen Isis, die zweitgrößte Stadt im Land, einnehmen konnten. Die Minderheiten, aber nicht nur die Minderheiten, sind in größter Angst, was jetzt auf sie zukommen wird. Wir haben die Bilder im Fernsehen gesehen: 500.000 Menschen sind auf der Flucht aus der Stadt Mosul, in ganz kurzer Zeit. Die humanitäre Lange ist dramatisch: die Flüchtlinge drängen in Richtung auf die Kurdengebiete, die bisher als sehr sicher galten, werden dort aber nur langsam hineingelassen, weil die kurdische Regionalregierung natürlich befürchtet, daß sich Terroristen unter die Flüchtlinge gemischt haben könnten, um dann auch in den kurdischen Gebieten Anschläge zu verüben. Es beruhigt sich in der Stadt Mosul so langsam wieder. Missio-Partner berichten von dort, daß ein Großteil der islamistischen Kämpfer weitergezogen sei. Wir haben ja auch gehört, daß die Isisgruppen Richtung Bagdad, Zentral-Irak ziehen. Es ist aber ein Teil der Kämpfer weiter in der Stadt, und es herrscht so eine Art "gespannte Ruhe" - so wird uns berichtet. Die Menschen warten ab, die die in Mosul geblieben sind, haben sich in ihren Häusern verbarrikadiert und haben natürlich Angst. Niemand weiß genau, was kommen wird, auch wenn der Isis Chef Abu Bakr al-Baghdadi über die Medien verkündet hat, er wolle dort ein Staatswesen errichten und einen Bürgermeister eingesetzt haben soll für Mosul, der dort für Ordnung sorgen soll.

domradio.de: Immer drängender wird auch das Problem der Flüchtlinge. Allein aus Mossul sollen rund eine halbe Million Menschen geflüchtet. Wie kann man denn die aufnehmenden Regionen vorbereiten?

Vogt: Das ist ganz schwierig: die Region hat ja schon Flüchtlinge aus Syrien in letzter Zeit aufgenommen, und in den Jahren vorher Menschen, die aus dem Zentral- und Südirak in den Norden geflohen sind -  vor allem von der christlichen Minderheit. Es werden erste Zelte aufgebaut von den Nothilfeorganisationen. Caritas-Irak macht sich auch bereit, den Menschen zu helfen, und sehr viele, ich spreche jetzt auch wieder für die Christen, finden Unterschlupf bei Familie und Verwandten und Freunden in den Dörfern am Rande des Kurdengebietes, in den christlichen Dörfern, die bisher als relativ sicher galten.

domradio.de: Kann man überhaupt humanitäre Hilfe leisten? Was sind die größten Probleme?

Vogt: Es ist sehr schwierig, weil alles sehr plötzlich gekommen ist. Niemand hat mit einem so großen Flüchtlingsstrom gerechnet und das Thema Flüchtlingsversorgung und Sicherheit geht sehr eng zusammen. Sicherlich muß man den Menschen zuerst helfen, aber die kurdischen Milizen haben natürlich Angst unter den Flüchtlingen auf Terroristen zu treffen, die sich da getarnt haben und die jetzt die bisher sicheren Gebiete auch unsicher machen wollen. Die Menschen sind geflohen, größtenteils ohne etwas mitnehmen zu können. Man war total überrascht. Ich habe Berichte gehört von Leuten, die plötzlich Schießereien in ihrem Stadtviertel gehört haben, die ohne etwas mitnehmen zu können, teilweise zu Fuß die Flucht ergriffen haben. Die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln ist hier zunächst das allergrößte Problem

domradio.de: Die USA sind stark kritisiert worden für ihren Einsatz. War das Eingreifen im Nachhinein falsch - oder andersherum war dann ihr Abzug aus dem Irak zu früh? Wie kann man aus dieser Lage überhaupt wieder herauskommen?

Vogt: Nein, schnell wird man diese Krise nicht lösen können. Man kann sagen, sie hat sich lange angebahnt. Dadurch, daß die Regierung von Ministerpräsident Nuri al Maliki sehr stark die Schiiten ausschließlich begünstigt hat und die Sunniten verprellt hat, und Mosul eine sunnitische Region ist - das hat die Bevölkerung dort gegen die Zentralregierung aufgebracht. Auch ein Grund dafür,  warum in Mosul den sunnitischen Islamisten kaum jemand Wiederstand geleistet hat. Nicht so sehr wegen einer Sympathie gegenüber den Islamisten, sondern wegen einer vollkommenen Ablehnung der Zentralregierung. Wie man da jetzt rauskommen soll politisch, wird sehr schwierig. Es geht nur, in dem man die Politik der Zentralregierung verändert,  auch die Sunniten wieder a den eigentlich vorhandenen Reichtümern des Landes beteiligt. Sunnitische Regionen wieder in die Entwicklung des Landes mit einbezieht, und in die Politik des Landes mit einbezieht. Und dann über eine Umstrukturierung der Streitkräfte die ja offensichtlich auch versagt haben.

Das Interview führte Matthias Friebe.


Quelle:
DR