Krankenkassen verweigern Frauen mit Genitalverstümmelung oft Behandlung

Opfer von Tradition und System

Bis zu 30.000 Frauen, die an den Genitalien verstümmelt wurden, leben in Deutschland. Sie sind traumatisiert, leiden unter starken Schmerzen und Folgekrankheiten. Ihnen zu helfen ist möglich - doch die Hilfe scheitert oft am deutschen Gesundheitssystem.

Autor/in:
Natalia Matter
 (DR)

"In manchen Fällen braucht es eingehende Gespräche, in anderen kann ein operativer Eingriff die Qualen lindern, manche Frauen brauchen beides", sagt der Frauenarzt Christoph Zerm aus Herdecke, der sich seit Mitte der 90er Jahre mit dem Thema beschäftigt.



Denn was bei anderen Krankheiten oder Verletzungen kein Problem ist, stellt Ärzte und betroffene Frauen hier vor deutliche Hürden. Denn Genitalverstümmelung ist in Deutschland keine offizielle Diagnose, steht also nicht im Katalog, nach dem Mediziner ihre Behandlungskosten bei den Krankenkassen abrechnen. Die Folge: Die Kassen zahlen nicht. "Es ist eher die Ausnahme, dass eine Krankenkasse bereit ist, einen Teil der Kosten zu übernehmen", zeigt Zerms Erfahrung, der schon zahlreiche Frauen ohne Bezahlung behandelt hat.



Das soll sich jetzt ändern. Die Frauenorganisation "Terre des Femmes" setzt sich zusammen mit der "Arbeitsgemeinschaft Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit" (FIDE) dafür ein, dass Genitalverstümmelung in den offiziellen Diagnoseschlüssel und das Abrechnungssystem der Krankenkassen aufgenommen wird. Die FIDE, in deren Vorstand Frauenarzt Zerm ist, ist eine Sektion der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Mit Hilfe einer Unterschriftenaktion will sich die Initiative die Unterstützung von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) sichern.



"Viele im Gesundheitssektor wissen nicht genug"

Die Frauen, deren äußere Genitalien teilweise oder ganz entfernt wurden, stammen vor allem aus afrikanischen Ländern. Dort werden viele Frauen und Mädchen von medizinisch ungeschulten Beschneiderinnen unter unhygienischen Bedingungen mit verschiedenen Werkzeugen wie Rasierklingen und Glasscherben traktiert.



Viele Krankenkassen sähen in der Versorgung der betroffenen Frauen keine medizinisch notwendige Leistung, sondern eine Schönheits-Operation, erklärt Franziska Gruber, Expertin für Genitalverstümmelung bei "Terre des Femmes." Die Kassen-Mitarbeiter müssten für das Thema sensibilisiert werden. "Insgesamt wissen viele Menschen im Gesundheitssektor nicht genug über das Problem", sagt Gruber. Das zeige auch eine Umfrage, die ihre Organisation unter Frauenärztinnen und -ärzten gemacht habe.



Laut Bundesministerium haben die Kassen durchaus die gesetzliche Pflicht, die Behandlung zu zahlen, wenn es wegen der Genitalverstümmelung zu sogenannten Funktionsstörungen kommt. Es bestehe daher keine Notwendigkeit, dafür eine eigene Kategorie im Leistungskatalog einzurichten.



Auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) sieht durchaus Spielraum für die behandelnden Ärzte. "Im Einzelfall kann es Schwierigkeiten bei der Abrechnung geben, weil es für Genitalverstümmelung keine eigene Fallpauschale gibt", räumt Sprecherin Claudia Widmaier ein. "Weil sich die Genitalverstümmelung allerdings in verschiedenen medizinischen Diagnosen äußert, gibt es Möglichkeiten, diese Kosten abzurechnen."



"Wir haben es hier mit einem Tabu zu tun"

Doch Zerm und seine Kollegen haben andere Erfahrungen. "Es hat sich gezeigt, dass nur die Krankheiten als real begriffen werden, die als Zahl im Diagnosekatalog erfasst sind", sagt Zerm, der seine Praxis im nordrhein-westfälischen Herdecke hat. Die Behandlung über andere Diagnosen abzurechnen sei auf Dauer auch keine Lösung. "Wir haben es hier mit einem Tabu zu tun und es ist nötig, dass die Fälle in der Statistik auftauchen." Es gehe um mehr Transparenz und eine angemessene Vergütung, betont er.



Auch "Terre de Femmes" kennt viele Fälle, in denen die medizinische Versorgung einer Frau gar nicht oder nur nach langen Auseinandersetzungen von den Kassen übernommen wurde. Schlimmer noch sei die Lage für asylsuchende Frauen in Deutschland, denn die seien gar nicht erst krankenversichert, erläutert Gruber. Doch auch diese Frauen sollten ein Anrecht auf kostenlose Behandlung haben, wenn dies nötig sei. Gynäkologe Zerm betont: "Auch wenn die Betroffenen der Genitalverstümmelung zahlenmäßig nicht so viele sind, sind es Menschen, denen geholfen werden muss."