Kolleg St. Blasien setzt auf Offenheit und Enttabuisierung

Ein Jahr nach dem Missbrauchsskandal

Von den 50er bis zu den 80er Jahren kam es in St. Blasien zu Gewalt und Missbrauch. Von mindestens 30 Opfern ist auszugehen – soweit die Fakten ein Jahr nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals an dem renommierten am Jesuiten-Kolleg. Zeit für einen Schlusspunkt also?

Autor/in:
Volker Hasenauer
 (DR)

Der Schulalltag läuft weiter. Bald stehen die Abiturprüfungen an. Und bevor Kollegsdirektor Johannes Siebner berichtet, wie die seit Januar 2010 nach und nach ans Licht gekommenen Missbrauchstaten katholischer Priester das Kolleg St. Blasien verändert haben, erkundigt er sich rasch nach dem gerade neu angelegten Fußballplatz: "Ist es wirklich so, dass der Kunstrasen auch nach einem Regen schnell wieder bespielbar ist?"



Trotz aller Normalität wird beim Besuch im renommierten Schwarzwaldinternat St. Blasien schnell klar, dass die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit Missbrauch, Vertuschung längst nicht an einem Ende angekommen sind. Mittlerweile ist klar, so hat es die externe Ermittlerin Ursula Raue festgehalten, dass es von den 50er bis zu den 80er Jahren am Jesuiten-Kolleg zu Gewalt und Missbrauch gekommen ist. Von mindestens 30 Opfern ist auszugehen. Erst vor wenigen Tagen hat die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen eingestellt, da alle Taten strafrechtlich verjährt sind. Zeit für einen Schlusspunkt also?



"Es gibt jetzt Worte für das vorher Unaussprechliche"

Kollegsleiter Siebner, aber auch Elternvertreter und Lehrer widersprechen vehement. Die wichtigste Lehre aus den Missbrauchsfällen sei größtmögliche Transparenz und ein Ende von Tabuisierung und Sprachlosigkeit in Sachen Sexualität, Gewalt und Grenzüberschreitungen. Und dabei, da ist sich Siebner sicher, ist im vergangenen Jahr viel erreicht worden. "Es gibt jetzt Worte für das vorher Unaussprechliche, das ist die Veränderung."



Abiturientin Marie-Sophie Grünewälder bestätigt: "Jeder Schüler weiß, an wen er sich wenden kann. Es gibt Ansprechpartner, denen wir vertrauen." Im neuen Schaukasten im Schulflur sind die Anlaufstellen aufgelistet: Schulseelsorger, Vertrauenslehrer, Schulpsychologin, Oberstufenberater und ein Verweis auf "Wendepunkt", eine externe Beratungsstelle, die bei Fortbildungsveranstaltungen auch die Lehrer berät.



Christian Spitz, Elternbeiratsvorsitzender und Kinderarzt, weiß aus der eigenen Praxis: "Ich fürchte, dass wir Missbrauch nicht aus der Welt schaffen können. Mehr als fünf Prozent aller Kinder werden Opfer von Missbrauch." Gerade deshalb ist es ihm wichtig, Tabuisierungen und Schweigestrukturen in der Schule zu brechen. "Wir dürfen nicht locker lassen, und müssen das unbequeme Thema immer wieder ansprechen." Kinder müssten so gestärkt werden, dass sie bei Grenzüberschreitungen Nein sagen können.



Zugleich ist ein Jahr nach Aufdeckung der Taten deutlich, dass für die meisten Schüler der Skandal längst in den Hintergrund getreten ist. "Das war dann schnell kein Thema mehr", erzählt Schülersprecher Johannes von Gumppenberg. Und Beratungslehrer Georg Leber meint:  "Die Nachrichten über Missbrauch sind zwar wie eine Bombe eingeschlagen. Aber es war sehr rasch klar, dass diese dunkle Vergangenheit das Vertrauen in die Schule heute nicht erschüttern kann."



Neuanmeldungen legen zu

Angesichts des Skandals klingt es überraschend: Kein Schüler wurde vom Kolleg abgemeldet, die Neuanmeldungen legten eher zu. Wenn Leber an den umliegenden Grundschulen über das Kolleg informiert, muss er sich vielen Elternfragen stellen - zu den Missbrauchsfällen will allerdings niemand etwas wissen.



Eine Ursache für das anhaltende Elternvertrauen: Es ist dem Jesuitenorden offenbar gelungen, klar zu machen, dass es im Jahr

2010 keine Vertuschung und keine häppchenweise Informationspolitik mehr geben durfte. Pater Klaus Mertes vom Canisius-Kolleg in Berlin und Pater Siebner in St. Blasien gingen offen mit den Fällen um, die auf ihren Orden und ihre Schulen solch dunkle Schatten warfen.



"Mir war von Anfang an klar, dass es keine Alternative zur schmerzhaften Offenlegung aller Fakten geben kann", sagt Siebner. Auch wenn dies kirchenintern nicht immer auf Zustimmung stieß und das Wort von den Nestbeschmutzern die Runde machte: Die Früchte dieser Politik erntet das Kolleg heute.



Ein Schatten aber bleibt. Denn die drängende Frage der Opfer, warum es noch immer keine Einigung über Anerkennungszahlungen gibt, kann auch Siebner nicht zufriedenstellend beantworten. Zwar spricht er sich klar dafür aus, dass die Kirche mit einer vierstelligen Summe als "symbolische Sühneleistung" vorangehen sollte. Seine vage Hoffnung, dass es "sehr bald" zu einer gesamtkirchlichen Lösung kommen werde, reicht den Opfern indes nicht aus.