DOMRADIO.DE: Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, des größten Vernichtungslagers der Nazis. Der Jahrestag der Befreiung wurde 1996 auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog offizieller deutscher Holocaust-Gedenktag. Wie begehen Sie diesen geschichtsträchtigen Tag?

Judith Schoene (Studiendirektorin und Lehrerin für Geschichte und Kunst am Erzbischöflichen Ursulinengymnasium Köln): Wir nehmen den 27. Januar an unserer Schule sehr ernst und versuchen immer, ihn ins Bewusstsein unserer Schülerinnen zu holen. Zum Beispiel indem wir hier in Köln am Lern- und Gedenkort Jawne, wo es bis 1942 das einzige jüdische Gymnasium im Rheinland gab, an einer Gedenkveranstaltung teilnehmen und diese mitgestalten.

1939 schaffte es Erich Klibansky, Schulleiter der Jawne, etwa 130 Schülerinnen und Schüler nach dem Novemberpogrom mit zwei Kindertransporten nach England zu bringen und sie so vor dem Zugriff der Nazis zu bewahren. Für die Kinder aber bedeutete dies, von ihren Eltern getrennt zu werden, ohne zu wissen, ob sie sie je wiedersehen würden.
Seit vier Jahren haben wir an unserer Schule unter der Überschrift "Geschichte erinnern – Demokratie gestalten" ein Wahlpflichtfach mit dem Namen "Geschichts- und Politikwerkstatt" für die Klassen 9 und 10 eingeführt, zu dessen Curriculum gehört, sich ein halbes Jahr lang ausschließlich mit jüdischer Geschichte – speziell mit jüdischem Leben in Köln – zu befassen: in der Konsequenz mit den Themen Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Juden.
In diesem Jahr haben sich unsere Schülerinnen mit den Kindern und Jugendlichen, die im Lager Theresienstadt interniert waren, beschäftigt. Im Sommer wird der Kurs dann eine sechstägige Gedenkstättenfahrt dorthin unternehmen, wo die Schülerinnen Bezüge herstellen können zwischen dem, was sie in der Schule über die Entrechtung der Kinder in diesem Ghetto und Durchgangslager herausgefunden haben, und dem, was sie vor Ort noch an Spuren finden können.
Außerdem haben die Schülerinnen der Geschichts- und Politikwerkstatt selbst Workshops zum Thema "Entrechtet, eingesperrt, mutig und kreativ – Kinder und Jugendliche in Theresienstadt" konzipiert, die sie Ende Januar in Klassen unserer Schule durchführen, um diese Thematik möglichst weit in die Schulgemeinschaft zu tragen. Das ist uns ganz wichtig.

DOMRADIO.DE: Nehmen Sie uns einmal in Gedanken mit nach Auschwitz oder Theresienstadt, wohin Sie mit Ihren Oberstufenschülerinnen regelmäßig fahren. Wie erleben die Jugendlichen einen solchen Ort der Unmenschlichkeit?
Schoene: Sie haben ganz viele Bilder, Erwartungen und Vorstellungen von einem solchen Ort im Gepäck. Doch bei der konkreten Begegnung revidiert sich dann manches und jede Schülerin reagiert anders, so dass es ganz unterschiedliche Gefühle gibt. Alle aber bringen Respekt und manche auch ein bisschen Angst mit, weil sie spüren, dass sie von den Eindrücken überwältigt werden könnten. Oft herrschen Stille und angespannte Ergriffenheit, weil man in der Tat von ganz intensiven Emotionen übermannt werden kann.
Es macht einen deutlichen Unterschied, ob man im Unterricht über diese Orte spricht oder ihnen real begegnet. Unterricht stößt hier an seine Grenzen. Natürlich bereiten wir die Schülerinnen darauf vor, und auch am Ort selbst führen wir viele Gespräche und machen Angebote, um dieses Grauen überhaupt irgendwie verarbeiten zu können. Trotzdem ist die Situation sehr herausfordernd.

Da kann es dann ganz wichtig sein, die eigene Freundin mit dabei zu haben. Denn wenn man sich gut kennt, traut man sich auch eher die Konfrontation mit einem solchen Ort zu. Es handelt sich ja um eine sehr bewusste Entscheidung, an einer solchen Fahrt teilzunehmen, zumal die Fahrt nach Auschwitz freiwillig ist und immer über Karneval stattfindet. Das heißt, die Schülerinnen investieren ihre schulfreien Tage. Daher: Wer mitfährt, will ganz klar etwas über diesen Ort und an diesem Ort lernen.
DOMRADIO.DE: Wie sehr interessieren sich denn überhaupt junge Menschen für dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte?
Schoene: Ich stelle ein großes Interesse fest. Schon die jüngeren Schülerinnen in den 6. und 7. Klassen fragen mich: Wann beschäftigen wir uns denn mit dem Nationalsozialismus? Woher das kommt, kann ich nicht genau sagen. Jedenfalls spüre ich, dass die Auseinandersetzung mit diesem Teil deutscher Geschichte vielen ein echtes Anliegen ist.
Manche kommen auch schon mit einem Vorwissen, weil sie viel über diese Zeit gelesen oder auch Dokumentationen im Fernsehen dazu gesehen haben. Man merkt, dass einige sogar ein sehr spezielles Interesse, zum Beispiel am Thema "Frauen im Nationalsozialismus", haben. Und an diese Neugierde lässt sich dann für mich wunderbar anknüpfen.

DOMRADIO.DE: Welches pädagogische Kernanliegen verbinden Sie mit den von Ihnen organisierten Fahrten nach Auschwitz und Theresienstadt, die in eine Zeit eintauchen, für die es kaum noch Zeitzeugen, also fast ausschließlich nur noch Sekundärwissen in den Geschichtsbüchern gibt?
Schoene: Was an solchen Orten der nationalsozialistischen Verbrechen anschaulich erlebbar wird, ist, wohin Menschenverachtung, Hass und Ausgrenzung im Extremen führen können. Oft kommen unsere Schülerinnen mit der Vorstellung nach Auschwitz, hier waren Monster am Werk. Bei der Beschäftigung mit Täterbiografien stellen sie aber dann fest, dass das eigentlich Menschen wie du und ich sind.
Und dann fragen sie sich, wie kann das sein, dass Menschen überhaupt fähig dazu sind, in diesem Ausmaß zu morden. Das ist eine Erkenntnis, die die Schülerinnen sehr bewegt, weil sie begreifen, dass das, was damals geschehen ist, jederzeit wieder passieren kann. Schließlich hat sich der Mensch ja nicht wirklich geändert, zumal sich auch heute wieder Menschen mitten aus der Gesellschaft heraus radikalisieren und rechtsextremes Gedankengut verherrlichen.
Mir ist bei solchen Fahrten wichtig, keine Schuldgefühle zu wecken, aber doch die Erkenntnis, wir tragen zwar für die Vergangenheit keine Verantwortung, aber für das, was heute in unserem persönlichen Umfeld passiert. Und daran können wir anknüpfen. Also, was entdecken wir heute an Hass und Diskriminierung, und was können wir dagegen tun?

An dieser Stelle bricht ein ganz wichtiger Diskurs darüber auf, welchen Teil jeder Einzelne dazu beitragen kann, dass sich Geschichte eben nicht wiederholt. Da geht es dann um Stärkung und das Aufzeigen von Möglichkeiten, wie das in unserer Gesellschaft funktionieren kann.
DOMRADIO.DE: Wie denn?
Schoene: Zum Beispiel indem ich mit jedem Kurs der Geschichts- und Politikwerkstatt die Kölner Meldestelle für antisemitische Vorfälle, die ihr Büro im NS-Dokumentationszentrum am Appellhofplatz hat, besuche. Der Jahresbericht dieser Meldestelle listet antisemitische Vorfälle auf, die nicht zur Strafanzeige führen, aber Beispiele für Alltagsantisemitismus sind und auf einem Stadtplan eingetragen werden.
Das ist für die Schülerinnen insofern interessant, als sie die registrierten Beleidigungen und Angriffe dann unter Umständen auch in ihrem eigenen Viertel verortet sehen und sie mit einem Mal merken, dass es im Prinzip um dieselben Vorurteile gegenüber Juden geht, wie es sie damals auch gegeben hat.
Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis, hier die Vergangenheit nicht vollkommen von der Gegenwart abzukoppeln, sondern festzustellen, dass es antisemitisches Verhalten auch heute – 80 Jahre später – in Köln gibt. Ich will einfach, dass meine Schülerinnen sich davor nicht verschließen, sondern offenen Auges durch Köln gehen.
DOMRADIO.DE: Auschwitz war dazu bestimmt, das zentrale Lager für die Vernichtung des jüdischen Volkes zu sein. Zynischerweise wurde die Wirkung des in den Gaskammern verwendeten Gases Zyklon B zunächst an sowjetischen Kriegsgefangenen getestet. Erreicht die Grausamkeit dieser Realität heutzutage überhaupt noch junge Menschen, die doch einiges an "Abhärtung" durch fragwürdige Computerspiele gewöhnt sind? Können sie 80 Jahre später noch eine Vorstellungskraft dafür entwickeln, was dieses systematische Töten damals bedeutete?
Schoene: Alle kennen die Bilder aus Auschwitz-Birkenau aus den Geschichtsbüchern. Aber an Ort und Stelle zu stehen und die unermessliche Größe dieses Geländes zu erlaufen, das man in seiner ganzen Fläche gar nicht überblicken kann, ist dann doch nochmals etwas völlig anderes.
Wenn man oben in dem Turm am Eingang steht, sieht man bis zum Horizont die Schornsteine der ehemaligen Baracken, in denen jeweils bis zu 1000 Menschen eingepfercht waren, bis sie in die Gaskammern geführt wurden. Und dann erschließt sich zum ersten Mal so ein Größenverhältnis. Allein die Führung durch dieses weitläufige Areal dauert etwa vier Stunden.
Im Stammlager ist auch noch eine Gaskammer erhalten, in der die ersten Versuche mit Zyklon B in Auschwitz gemacht wurden. Wenn man da durchgeht, lässt das niemanden unberührt. Oder wenn wir dann vor den Bergen von Brillen, Schuhen und Haaren stehen – und das ist nur ein Bruchteil von etwa 3000 Gefangenen, über 1 Millionen aber wurden dort insgesamt ermordet – dann bekommt man ansatzweise eine Ahnung von der Dimension dieses Schreckens einer fabrikmäßigen Tötungsmaschinerie, die jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt.
Und wenn man dann noch mit einzelnen Biografien, die wir vor Ort kennenlernen, konfrontiert wird, bekommt dieses vielleicht zunächst abstrakte Auschwitz mit einem Mal ein Gesicht.
DOMRADIO.DE: Rassismus und Antisemitismus – Angriffe auf Juden oder andere Ethnien – sind in Deutschland wieder Alltagsphänomene. Wie können Sie als Lehrkraft dafür sensibilisieren – ohne rechtsextrem orientierte Parteien beim Namen zu nennen, die solchen Bewegungen Vorschub leisten – und Ihrem Bildungsauftrag nachkommen? Welche Verantwortung spüren Sie?
Schoene: Eine riesige. Und sie bewegt mich jeden Tag. Natürlich darf ich die Jugendlichen nicht in eine politische Richtung drängen, aber ich bin auch verpflichtet, die Werte unseres Grundgesetzes zu verteidigen. Und wenn da in Artikel 1 steht "Die Würde des Menschen ist unantastbar", dann gilt das, und dann können wir davon ausgehend schauen, wo sie im Moment bei uns angetastet und verletzt wird.
Ich halte es für enorm wichtig, Jugendliche dafür zu sensibilisieren, auch ohne einzelne Parteinamen zu nennen. Und mit dieser Sensibilisierung geht auch die Ermutigung einher, im Ernstfall Courage zu zeigen und für ihre Mitmenschen entsprechend einzutreten.
Unsere Demokratie gerät zunehmend unter Druck. Das ist für uns Geschichtslehrer Mahnung und Auftrag zugleich. Im Jahr 2020 hat der Auschwitz-Überlebende Marian Turski bei der traditionellen Gedenkveranstaltung den Nachfolgegenerationen den Auftrag erteilt "Seid niemals gleichgültig!"
Diesen Appell tragen wir mit, und wir versuchen diesen in unserem Fach zum Kernanliegen zu machen: dass unsere Schülerinnen zu mündigen Bürgerinnen werden, sich gegen Geschichtsvergessenheit engagieren und für eine aktive Mitgestaltung von Demokratie eintreten.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.