Kölner Jüdin vermisst Solidarität der Deutschen

"Das ist eine sehr bedrückende Situation!"

Als Mitglied der Kölner Synagogen-Gemeinde sorgt sich Ruth Schulhof-Walter um Freunde und Familie in Israel und um jüdische Mitbürger in Deutschland. Christlicher Zuspruch tut ihr gut, sie erwartet insgesamt aber mehr Anteilnahme.

Rundes Fenster und ein siebenarmiger Leuchter mit Davidstern in der Synagoge der Synagogen-Gemeinde Köln / © Julia Steinbrecht (KNA)
Rundes Fenster und ein siebenarmiger Leuchter mit Davidstern in der Synagoge der Synagogen-Gemeinde Köln / © Julia Steinbrecht ( KNA )

DOMRADIO.DE: Wie geht es Ihnen persönlich – vier Wochen nach diesem 7. Oktober, den ja viele Jüdinnen und Juden weltweit schon als ihren neuen 9/11, also als ihren elften September, bezeichnet haben?

Ruth Schulhof-Walter (Mitglied Synagogen-Gemeinde Köln): Persönlich kann ich nicht sagen, dass es mir schlecht geht. Ich bin da ganz bescheiden: Ich habe ein Zuhause, ich habe zu essen, meine Kinder sind in Sicherheit. Aber alles andere ist unvorstellbar! Ich habe Familie und Freunde in Israel; und man macht sich Sorgen. Jeder kennt einen, der einen kennt, der jetzt seit vier Wochen in Gaza sitzt oder tot ist; der oder die alles verloren hat und nur das nackte Leben behalten hat und dessen Familie und Freunde ermordet wurden in den Kibbuzim. Das ist schon eine sehr bedrückende Situation, ganz ehrlich.

DOMRADIO.DE: Wir hören von jüdischen Familien in Deutschland, die sich nicht mehr trauen, ihre Kinder zur Schule zu schicken, geschweige denn sich mit Kippa oder einer Davidstern-Kette auf der Straße zu zeigen. Erleben Sie das in Ihrem Umfeld auch?

Schulhof-Walter: Ja, unbedingt. Ich habe Verständnis für diese Eltern – sie haben schlicht Angst vor Terroristen, die auch nicht davor zurückschrecken, Kinder abzuschlachten. Ich höre das aus dem Freundes- und Bekanntenkreis; und ich weiß nicht, wie ich selbst reagieren würde, wenn meine Kinder noch im Kindergarten oder in der Schule wären. Das ist eine sehr emotionale Geschichte.

DOMRADIO.DE: Wie wirkt sich denn diese aktuelle Eskalation in Nahost ganz konkret auf das Leben der Synagogen-Gemeinde Köln aus?

Schulhof-Walter: Ich bin bereits pensioniert und damit keine aktive Mitarbeiterin der Synagogen-Gemeinde mehr. Aber auch als Gemeindemitglied weiß ich, dass die Bewachung stärker geworden ist. Ich weiß, dass viele Familien Probleme haben. Menschen haben zum Beispiel Angst und Sorge, in den Gottesdienst zu gehen - etwas ganz Elementares. Kinder werden nicht mehr zur Schule geschickt. Wir haben ein Jugendzentrum, wo sich die Kinder, die auf verschiedene Schulen gehen, treffen. Auch das ist alles sehr belastet. Hinzu kommt, dass israelische Familien oder das, was von ihnen übriggeblieben ist, nach Köln kommen, weil sie hier familiäre Anbindungen haben, um ein bisschen Luft zu holen. Diese Menschen sprechen zum Teil kein Deutsch, sind hier völlig fremd. Und sie sind unsagbar traumatisiert. Die Gemeinde versucht jetzt alles, um diesen Menschen zu helfen.

DOMRADIO.DE: "I stand with Ukraine" – nach Putins Angriff auf die Ukraine kamen von überall her Solidaritätsbekundungen. "I stand with Israel" hören wir auch, aber deutlich seltener. Solidaritätsbekundungen mit Israel kommen insgesamt viel verhaltener daher. Ist das schlimm für Sie?

Ruth Schulhof-Walter

"Wo ist da die Solidarität der Deutschen?"

Schulhof-Walter: Ja, weil ich seit Jahrzehnten in diesem Land lebe. Ich empfinde mich vielleicht nicht unbedingt als Deutsche, weil ich eine andere Mentalität und eine andere Religion habe. Aber ich spreche die Sprache, ich habe hier gelernt, ich arbeite hier, ich habe hier Freunde, was heißt: Ich bin hier zu Hause. Und jetzt erlebe ich all das! Ein aktuelles Beispiel: Das, was da gerade am Hamburger Flughafen passiert ist, ist ganz furchtbar, das kleine Mädchen tut mir unsagbar leid, ist traumatisiert, da brauchen wir nicht darüber zu reden. Aber das wurde in Kommentaren ausführlich thematisiert.

Dass Kinder und Babys seit vier Wochen in Geiselhaft in Gaza sind und keiner weiß, wie es ihnen geht, darüber wird kein Wort verloren. Das macht mich schon sehr betroffen. Ja, die Bevölkerung in Gaza leidet. Aber sie leidet nicht, weil die Israelis schießen; sondern die Menschen leiden, weil sie so gehalten werden. Ich sage bewusst "gehalten werden", denn sie werden ja von der Hamas nicht als Menschen behandelt, sondern als Schutzschilder missbraucht. Gleichzeitig sind über 240 Geiseln – alte Leute, junge Leute, Kinder, Babys – in Geiselhaft. Und hier redet keiner davon. Es werden immer nur die schrecklichen Bilder aus Gaza gezeigt, die – vollkommen klar – völlig unmenschlich und furchtbar sind. Aber warum redet keiner von den Kindern, die als Geiseln in Gaza sitzen? Wo ist da die Solidarität der Deutschen? Warum schreien sie nicht auf der Straße "Gebt die Geiseln frei!"?

DOMRADIO.DE: Am Wochenende hat es wieder verstörende pro-palästinensische Demos gegeben, auf denen sogar IS-Flaggen geschwenkt und Hassparolen gegen Israel skandiert wurden. Andererseits waren die Spitzen der muslimischen Landesverbände in Nordrhein-Westfalen bereits am 24. Oktober zu einem Solidaritätsbesuch in der Synagoge in Köln. Das war ja ein starkes Zeichen. Warum reicht das offensichtlich nicht?

Ruth Schulhof-Walter

"Sie sind nicht richtig integriert, und damit sind sie anfällig für jede Form von Propaganda."

Schulfhof-Walter: Ich bin weder Historiker noch Politologe. Ich gehe da mit gesundem Menschenverstand und Lebenserfahrung heran und erinnere daran, dass wir Juden schon vor Jahrzehnten immer wieder gesagt haben: Integration findet erstens nur über die Sprache statt. Alle müssen Deutsch sprechen können. Und zweitens müssen alle die Werte kennen, die hier in diesem Land im Grundgesetz wunderbar verankert sind, als erstes die Würde des Menschen. Diese Werte müssen bekannt gemacht werden, die müssen alle lernen. Dann können sie sich entscheiden, ob sie hier danach leben wollen oder woanders leben wollen. Denn diese Regeln gelten hier, völlig unabhängig davon, welcher Religion ich mich zugehörig fühle, ob ich zum Beispiel in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung oder alleine lebe, spielt überhaupt gar keine Rolle.

Ob ich an Gott glaube oder nicht, geht niemanden etwas an, das ist meins. Und solange ich einen anderen in seiner Freiheit, seinem Leben und seiner Gesundheit nicht beeinträchtige, kann ich doch bitte glauben, was ich will. Und das wurde den jungen – ich nenne sie jetzt mal – muslimischen Bürgern, die auch hier geboren wurden, nicht vermittelt. Auch in der Schule nicht, weil da wahrscheinlich immer die Angst war, "wenn wir denen das sagen, gelten wir als Rassisten". Das war ein Fehler. Sie haben zum Teil nicht richtig Deutsch gelernt. Sie sind nicht richtig integriert, und damit sind sie anfällig für jede Form von Propaganda. Das Ergebnis sehen wir jetzt.

Antisemitismus in Deutschland

Antisemitische und antiisraelische Straftaten nehmen in Deutschland wieder zu. Den Angaben der Bundesregierung zufolge wurden unter anderem 434 Fälle von Volksverhetzung, 15 Gewaltdelikte sowie 70 Fälle, die Sachbeschädigung betreffen, gezählt. Weitere Delikte betreffen etwa die Störung der Totenruhe oder Nötigung. Mehr als 90 Prozent der Straftaten wurden von deutschen Staatsangehörigen verübt. Von einer deutlich höheren Dunkelziffer ist auszugehen. 312 von 339 Tatverdächtigen waren Deutsche.

Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin / © Markus Nowak (KNA)
Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin / © Markus Nowak ( KNA )

DOMRADIO.DE: Inwiefern fühlen Sie sich denn von den christlichen Gemeinden gestützt?

Schulhof-Walter: Da, muss ich sagen, ist schon ganz viel. Die christlichen Kirchen, viele Mitglieder und auch Leitung und Führung drücken immer wieder ihre Solidarität aus, bieten Hilfe an und schreiben Mails. Wir leben hier seit Jahrzehnten zusammen und wenn so eine Situation kommt, lebt man nicht alleine. Das tut schon gut zu wissen. Auch wenn diese Menschen vielleicht aktiv nicht viel tun können, dieser Zuspruch tut gut.

DOMRADIO.DE: Die aktuelle Situation ist wirklich zum Verzweifeln. Sehen Sie da überhaupt die Möglichkeit, speziell für Jüdinnen und Juden in Deutschland, konstruktiv damit umzugehen?

Schulhof-Walter: Das ist eine sehr schwierige Frage. Wir sind ja keine homogene Gruppe. Wir haben einen gemeinsamen Glauben und wir haben eine gemeinsame Tradition. Aber wir kommen aus aller Herren Länder, haben verschiedene Mentalitäten, verschiedene Sprachen. Trotzdem sind wir eine Gemeinschaft und diese Gemeinschaft funktioniert. Aber wie wir damit in Zukunft umgehen können? Wenn ich das wüsste, könnte ich jetzt im Fernsehen sagen, wo es langgeht. Das kann ich nicht, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die Situation gerade so bedrückend und so gefährlich ist. Wenn ich mir die Nachrichten angucke, schüttle ich den Kopf und weiß es einfach nicht.

DOMRADIO.DE: Sie haben aktiv mitgearbeitet am Kulturprogramm des Jubiläumsjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Da ging es Ihnen ja gerade darum, jüdisches Leben jenseits von Klischees und Stereotypen darzustellen und bitte nicht ständig im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Fühlen Sie sich jetzt da in Ihrer Arbeit zurückgeworfen?

Ruth Schulhof-Walter

"Ich werde heute noch mit dem Vorurteil konfrontiert, dass wir keine Steuern zahlen müssen."

Schulhof-Walter: Ja und nein. Wir haben viele verschiedene Menschen ansprechen und erreichen können mit unserer Arbeit. Das war ein Riesenerfolg. Ich glaube nicht, dass diese Menschen jetzt auf die Straße gegangen sind, um zu schreien: "Massakriert die Juden!" Sondern die Gruppen, die so etwas auf die Straße tragen, haben wir eben nicht erreicht. Sie könnten wir nur erreichen über Bildung, über die Schulen. Die, die heute schon 20, 30, 40 Jahre alt sind, können wir, glaube ich, nicht mehr erreichen, jedenfalls mit unserer Arbeit nicht. Aber die Jungen, die Schüler, vielleicht die Studenten, die könnten wir erreichen. Wir könnten in die Schulen gehen.

Wir könnten mit den Lehrern sprechen. "Wie geht ihr damit um, wenn ihr Antisemitismus in der Klasse habt? Was könnt ihr den Schülern sagen gegen diese uralten Stereotypen." Stereotype wie "Juden haben die Brunnen verseucht, es kam die Pest". Ich selbst werde ja heute noch mit dem Vorurteil konfrontiert, dass wir keine Steuern zahlen müssen. Völlig absurd. Ich sage dann immer: "Sie können meinen Steuerbescheid gerne haben!" Solche Klischees und Vorurteile haben sich bis heute gehalten. Wir kriegen das, glaube ich, nur raus, wenn wir an Schulen gehen, zu den jungen Menschen und ihnen zeigen: Juden sind Menschen. Wir sind alle Menschen. Wir glauben Verschiedenes, wir feiern Verschiedenes, aber wir sind alle Menschen.

Bilder von in den Gazastreifen entführten Menschen an der Kölner Synagoge / © Federico Gambarini (dpa)
Bilder von in den Gazastreifen entführten Menschen an der Kölner Synagoge / © Federico Gambarini ( dpa )

Vielleicht darf ich kurz ein Projekt erwähnen: Wir hatten einen Workshop in den Räumen der Synagogen-Gemeinde mit der Stadt Köln und zusammen mit dem "Kölner Forum für Kultur im Dialog". Dazu hatten wir ganz unterschiedliche Kinder eingeladen, auch vom sozialen Status her ganz unterschiedlich. Ein Flüchtlingsjunge aus Syrien hat sich mit einem jüdischen Jungen angefreundet und die Freundschaft ist noch weitergegangen. Ob sie heute noch besteht, weiß ich nicht.  Aber wir haben da eine ganze Woche zusammengearbeitet, haben die Synagoge besichtigt, haben Fragen gestellt, haben bei uns gegessen. Aus diesen Kindern, da bin ich mir sicher, werden keine Antisemiten mehr, die auf die Straße gehen und schreien: "Die bringe ich um!" Verstehen Sie? So etwas gibt mir Hoffnung, dass wir vielleicht, wenn wir mit ganz vielen daran arbeiten, etwas für die Zukunft ändern können. Aber wie wir die aktuelle Situation ändern können, da sind andere Stellen gefragt.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Quelle:
DR