Kirchenmusik-Experten loten Weg der Zukunft aus

"Musik schafft Zugehörigkeit"

In welche Richtung entwickelt sich Kirchenmusik in Zukunft? Was bleibt wichtig? Und was wird dauerhaft verzichtbar und was bezahlbar sein? Experten aus Theologie, Musikwissenschaft und Liturgie trafen sich erstmalig zu einem Austausch.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Gesangbücher eines Kirchenchores / © Elisabeth Rahe (KNA)
Gesangbücher eines Kirchenchores / © Elisabeth Rahe ( KNA )

Eine ergebnisoffene Diskussion hatte sich Richard Mailänder gewünscht – unter der Fragestellung: Was bedeutet uns die Tradition, und wie gehen wir in die Zukunft? Welche Relevanz hat Kirchenmusik in den Gemeinden? Wie stellt sie sich dar, und welche Impulse müssen wir aufgreifen? Welche Vorlieben bei Musik haben sich etabliert? Spielt Musik beim Zusammenhalt gemeindlichen Lebens eine besondere Rolle? Und: Wie fließt der pastorale Zukunftsweg in alle diese Überlegungen mit ein?

Unvoreingenommener Blick

Zu diesen bewusst breit angelegten Überlegungen hatte der im Erzbistum Köln verantwortliche Kirchenmusikdirektor gezielt Teilnehmer eingeladen, die sich in ihrem Bereich – in der Gemeinde, in der Seelsorge und in der Musik – auskennen und von daher als Experten gelten können. Zusätzlich sollten Musikwissenschaftler den unvoreingenommenen Blick von außen mitbringen und für ergänzende Anregungen mit Erkenntnissen aus der Forschung sorgen.

Das Symposium im Düsseldorfer Maxhaus fand in Kooperation mit der Evangelischen Landeskirche im Rheinland, der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte sowie dem Düsseldorfer Kantorenkonvent im Rahmen des 150-jährigen Bestehens des Diözesan-Cäcilienverbandes statt.

"Wir haben die gemeindliche Kirchenmusik überhaupt nicht mehr im Blick", konstatiert Mailänder. "Mit diesem Runden Tisch wollen wir herausfinden: Wo stehen wir? Wie geht es weiter? Woher beziehen wir unsere Inspiration? Was wird überhaupt dazu in den unterschiedlichsten Bereichen gedacht, und wie können wir mit den derzeitigen pastoralen Umbrüchen, die auch das Leben in den Gemeinden verändern, umgehen? Deshalb müssen wir bei pastoralen und ehrenamtlichen Mitarbeitern, Pfarrern, Ordensgemeinschaften und vor allem Kirchenmusikern in allen Stadt- und Kreisdekanaten nachfragen."

Szene wächst

Die kirchenmusikalische Szene wachse und damit der Gestaltungsreichtum von Kirchenchören. Habe man früher vor allem ein Repertoire aus Klassik und Romantik gepflegt – "Bach lebt immer noch" – sei beispielsweise die "praise and worship"-Szene enorm gewachsen; auch der Einfluss von Kompositionen aus Schweden, England und dem Baltikum sei unverkennbar. Doch ebenso der Blick zurück in die Vergangenheit, in die eine oder andere Kirchenchor-Chronik als einem schier unerschöpflichen Reservoir für das Selbstverständnis eines Sängerensembles, aber auch einem Zeugnis von Liturgiegestaltung vorangegangener Generationen, sei aufschlussreich.

"Denn hier haben wir ganz wichtige Quellen von soziologischer, kulturhistorischer, theologischer und musikwissenschaftlicher Bedeutung, die aber akademisch so gut wie gar nicht wahrgenommen werden", bedauert Mailänder. Umso wichtiger sei es, einmal Fachleute aus ihrer Perspektive zum Thema "Kirchenmusik" sprechen zu lassen und sich in dem Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation für die Praxis, das heißt den kirchenmusikalischen Alltag am jeweiligen Kirchort, zukunftsorientiert zu positionieren.

Gleichzeitig solle bei diesem erstmalig entwickelten Format eines Symposiums die Vielfalt kirchenmusikalischer Möglichkeiten demonstriert werden und ihre tiefe Verwurzelung in die Gesellschaft hinein – als ein großer Baustein von Kirche. "Es geht um Relevanz", betont Mailänder, und darum zu zeigen, wie viele Menschen sich kreativ in ihren Gemeinden engagieren, indem sie zum Beispiel Mitglied im lokalen Kirchenchor sind und hier eine für sie wesentliche Erfahrung des Zusammenhalts, der Gemeinschaft und Zugehörigkeit machen.

Einblicke aus den USA

Dazu stellte Monsignore Markus Bosbach, Leiter der Hauptabteilung Seelsorgebereiche im Generalvikariat und Vorsitzender des Diözesan-Cäcilienverbandes Köln, Ergebnisse einer Lernreise in die USA vor. In einem Land, in dem mehrheitlich die Menschen sagten, Moral und Liturgie seien ihnen fremd, gäbe es dennoch Gemeinden – er sprach über die Nativity Church in Baltimore – in denen das Gemeinschaftserlebnis und eine Atmosphäre des Willkommens im Vordergrund stünden und daher Aufbrüche erlebbar wären.

Die Menschen dort würden sich durchaus von einer guten Liturgie mit guter Musik ansprechen lassen. "Es geht um Beteiligung mit Relevanz, um eine unwiderstehliche beglückende Sonntagserfahrung", griff Bosbach das Stichwort Mailänders auf. Eine populär angelegte Musik sei in diesem Kontext ein wichtiger Andock-Punkt. Denn vor allem gehe es um Zugehörigkeit – gerade in einem urbanen Umfeld – und um ein Wohlfühlen. Der Ansatz in einer solchen Gemeinde sei nicht die Wahrung eines kulturellen Erbes, sondern: Wie gewinne ich Jünger Christi, wie schaffe ich Wachstum?

Dass dies auf sehr unterschiedliche Weise geschehen kann – mit einer "cross over"-Bewegung aus Klassik und Pop, mit lateinischem Hochamt und Gregorianik, mit klassischen Mozart- oder Haydn-Messen, mit Gospelchören oder Taizé-Klängen und das alles in einem groß angelegten Spagat zwischen Ästhetik und Pastoral – wurde dann in den vielen Einzelstatements deutlich, bei denen Kirchenmusiker, aber auch Pfarrer, Presbyter und Ordensleute über ihre sehr persönlichen Erfahrungen sprachen und ihr individuelles Engagement in der Kirchenmusik darstellten.

So wurde deutlich, dass in einer Kölner Altstadt-Gemeinde die Messbesucher etwas anderes suchen als in einer Pfarrei mit jungen Familien oder in der Kölner Kunststation St. Peter. Dass eine Gemeinde, in der der Kantor für die Aufführung von klassischen Messen bekannt ist, eine andere Klientel anzieht als die, in der mehr Sacro-Pop etabliert ist. Und überhaupt: Ist grundsätzlich nicht eine kirchenmusikalische Vielfalt gewünscht oder ist nicht auch eine Spezialisierung legitim und kann dem grundsätzlichen Verkündigungsauftrag genauso gerecht werden, vorausgesetzt, es stehen dafür auch in Zukunft noch die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung?

Bunter Strauß von Angeboten

So vertrat Kantorin Brigitte Rauscher vom Chorverband der Evangelischen Kirche im Rheinland beispielsweise: "Wir können den Menschen nichts überstülpen, was sie nicht wollen, sollten eher einen bunten Strauß an Angeboten binden – von Palestrina bis hin zu Liedern, die mit der Lebenswirklichkeit von Menschen zu tun hat." Ihr gehe es bei ihrer Arbeit mit älteren Menschen um Vielfalt mit Qualität, darum, "nah an den Menschen" zu sein und ihnen auch für zunächst Unvertrautes die Ohren zu öffnen. "Was Gemeinde kann, soll sie gut und authentisch machen."

Auf eine werbende Vermittlung setzt auch Chorleiterin Kornelia Kupski aus Altenberg bei ihrer Arbeit mit Kindern, wenn sie sagt: "Was einem selbst am Herzen liegt, sollte man an die Menschen bringen und sich dafür die nötigen Techniken überlegen." Es reiche nicht, sie dort abzuholen, wo sie stehen, und damit zufrieden zu sein. Qualitative Diskrepanzen zwischen dem grundsätzlichen Stellenwert einer anspruchsvollen Kirchenmusik mit viel klassischen Aufführungen innerhalb der Liturgie und dem recht schlichten Gemeindegesang auf der anderen Seite konstatiert Markus Belmann für die Düsseldorfer Maxkirche, dem "katholischen Opernhaus", wie er seinen Wirkungsort nennt.

Er stehe nun mal für Klassik, habe aber auch diesbezüglich mit Vorurteilen zu kämpfen, als könne er nichts anderes. Eine noch zugespitztere Spezialisierung gibt es seit den 80er Jahren in der Kölner Kunststation St. Peter. Hier ist die Verbindung von Spiritualität und zeitgenössischer Musik Programm, erläuterte Organist Dominik Susteck. Kirchen seien keine Alltagsräume, sondern "Anders-Räume", um Menschen einzustimmen und Inspiration zu ermöglichen.

Offenheit des Hörens

"Ich stehe für eine Offenheit des Hörens", vertrat schließlich Professor Michael Heinemann von der Hochschule für Musik in Dresden. In Musik geschehe im Moment der Aufführung eine Handlung, die über den Menschen hinausweise und ihn erkennen lasse, dass er in einer Gemeinschaft lebt. "Hier macht er die Erfahrung, es gibt noch etwas anderes – über mich hinaus."  Die Musik sei das Dach, unter dem er seine große Sorge für einen Augenblick unterstellen kann. "Von daher ist Musik existenziell."

Für Richard Mailänder ist nach dem zweitägigen Austausch klar: "Kirchenmusik ist nichts Statisches; sie entwickelt sich immer weiter. Wichtig ist, dass Pastoral und Kirchenmusik einen gemeinsamen Weg miteinander gehen und dabei mehr noch auf den Dialog setzen." Denn eines habe diese Tagung deutlich gemacht: "Unser kirchenmusikalisches Angebot lebt von einer reichen Vielfalt. Unsere Kirchenmusiker haben eine Menge anzubieten."


Quelle:
DR