Kirchenhistorikerin erklärt Reliquien und Wallfahrten

Tradition als Faszination

Am Sonntag wird im Mainzer Dom erstmals seit langer Zeit das Schweißtuch Christi gezeigt. Gisela Muschiol sieht in den zeitlichen Abständen von Wallfahrten zu Reliquien vor allem Pragmatismus. Pilgern sei aber dennoch spirituell.

Zwei Männer tragen je eine Tuchreliquie bei einer Pilgermesse während der Heiligtumsfahrt in Aachen / © Theo Barth (KNA)
Zwei Männer tragen je eine Tuchreliquie bei einer Pilgermesse während der Heiligtumsfahrt in Aachen / © Theo Barth ( KNA )

DOMRADIO.DE: Warum werden manche Reliquien so selten gezeigt wie jetzt im Mainzer Dom?

Prof. Dr. Gisela Muschiol (privat)
Prof. Dr. Gisela Muschiol / ( privat )

Prof. Dr. Gisela Muschiol (Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn): Das sind lange Traditionen, die zum Teil bereits im Mittelalter angefangen haben. So hat zum Beispiel für Aachen diese Siebenjahresfrist der Heiligtumsfahrt im Mittelalter begonnen, weil nicht jeder mal eben nach Aachen konnte, sondern das sind ganz besondere Ereignisse, ganz besondere Wallfahrten.

Die Aachener Heiligtumsfahrt stand auf einer Ebene mit den Wallfahrten nach Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela. Auch dort wurde zeitweise in Abständen etwas gezeigt, also nicht regelmäßig, sondern es war etwas ganz Besonderes, dass eine bestimmte Reliquie gezeigt wurde.

DOMRADIO.DE: Haben diese sieben Jahre in Aachen auch eine gewisse Symbolik?

Muschiol: Das vermute ich eher nicht. Die Siebenzahl ist zwar einerseits eine heilige Zahl: drei plus vier, also Dreifaltigkeit und vier Evangelisten und was man da immer hineininterpretiert hat. Es ist an manchen Stellen einfach auch eine pragmatische Zahl.

Die berühmtesten Aachenfahrer waren die aus Ungarn. Die konnten nicht jedes Jahr losziehen, das war einfach zu weit. Reliquien galten – das ist historisch verbrieft – auch als schadenabwehrende Schutzmittel. Diese Schadenabwehr hat man dann einmal durchgeführt und dann musste sie wieder für eine gewisse Zeit reichen.

DOMRADIO.DE: Schauen wir einmal auf die Kölner Domwallfahrt. Diese ist irgendwann im Prozess der Aufklärung eingeschlafen, ehe sie dann im Zuge des Weltjugendtags 2005 wieder eingeführt worden ist. Heute nennen wir sie Dreikönigswallfahrt.

Gisela Muschiol

"Domwallfahrt ist ein völlig falscher Begriff. Der Dom ist nicht das Interessante. Die Drei Könige sind das Interessante."

Muschiol: Das ist sie auch ursprünglich gewesen. Domwallfahrt ist ein völlig falscher Begriff. Der Dom ist nicht das Interessante. Die Drei Könige sind das Interessante oder der Schrein der Drei Könige mit den vermutlichen, tatsächlichen, angeblichen Überresten der drei Magier. Das ist das Interessante an der Wallfahrt gewesen. Domwallfahrt halte ich für einen wirklich irreführenden Begriff.

Pontifikalamt zur Dreikönigswallfahrt / © Beatrice Tomasetti (DR)
Pontifikalamt zur Dreikönigswallfahrt / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Also hat das Domkapitel mit dieser Umbenennung vor einigen Jahren einen richtigen Schritt vollzogen?

Muschiol: Ja! Das ist der historische Kern des Ganzen. Als Reinald von Dassel die Reliquien mitgebracht hatte, war die Verehrung der Könige sein Ziel. Er hatte das Ziel, den Kölner Dom zu einem Wallfahrtsort zu machen und brachte deswegen eine Reliquie mit, die für ihn eine besondere Bedeutung und die er gestohlen hatte. Auch das wissen wir.

Diese Reliquie sollte zum Ziel von Wallfahrten werden. Und das passierte auch. Das war natürlich auch ein Versuch, anderen Orten Konkurrenz zu machen.

DOMRADIO.DE: Und dann kamen Zeiten, in denen Wallfahrten zu Reliquien out waren und spirituell nicht mehr die Bedeutung hatten wie früher – Stichwort: Aufklärung. Wie kam es dazu und was war das für eine Zeit?

Muschiol: Das ist nicht nur die Aufklärung. Es gibt einen ganz berühmten Ausspruch von Alkuin. Das ist ein Berater Karls des Großen gewesen, also um 800, der sehr deutlich sagt, man solle lieber Gott im Herzen als Reliquien im Beutel tragen. Es gibt also eine sehr frühe Kritik an Reliquien. Das ist tatsächlich in einer Zeit, wo man das gar nicht vermutet.

Eine Kritik an Reliquien setzt dann mit der Reformation ein, bleibt aber durchaus auf den evangelischen oder den lutherischen Bereich beschränkt. Die Katholiken behalten ihre Reliquien geradezu aus Trotz oder Opposition.

Aber in der katholischen Aufklärung kommen bestimmte Gedanken und Ideen auch im Katholizismus an, nämlich die Frage, ob es nicht wichtiger ist, Christus zu verehren als irgendwelche Tücher oder Knochen oder sonst was. Das ist ein Gedanke, der in der Aufklärung stark wird und der dann auch im Katholizismus greift.

DOMRADIO.DE: Warum hat man überhaupt vorher dazu gefunden, dass man zu einem Ort pilgert, um Knochen oder Textilien zu verehren, was dann später kritisiert wurde?

Gisela Muschiol

"Der Ursprung der Reliquienverehrung ist immer Heiligenverehrung."

Muschiol: Das hängt mit der Heiligenverehrung zusammen. Ganz am Anfang sind natürlich alle die Heiligen. Das ist biblisch. Wir alle sind die Heiligen, von Gott erwählt.

Dann gibt es einen bestimmten Ursprung in den Verfolgungen. Die Märtyrer in den Verfolgungen werden zu besonderen Menschen, denen man, wenn sie gestorben sind, eine besondere Nähe zu Gott zusagt und zu deren Gräbern. Wenn sie bekannt sind, pilgert man, um dort Gebete zu hinterlassen oder Geschenke und die Gemeinschaft, die sich an einem solchen Grab manchmal bildet, dann um dauerndes Gebet zu bitten. Der Ursprung der Reliquienverehrung ist immer Heiligenverehrung.

Nach dem Ende der Christenverfolgungen sind es die Bekenner. Es gibt keine Blutzeugen mehr, daher muss man andere Zeugen haben. Das sind dann "Wortzeugen” oder "Bekenner, Bekennerinnen”, die als Heilige verehrt werden.

Am Anfang ist es auch immer so, dass man, wenn man einen Heiligen verehrt, zu seinem Grab pilgern muss. Es gibt keine Teilung von Heiligenleibern. Ganz im Gegenteil, die müssen ungeteilt in ihrem Grab sein. Das ist eine ganz bestimmte Vorstellung von Auferstehung, die auch dahintersteht. Nur der unversehrte Leib wird zu Christus auferstehen.

Prozession mit dem Schrein des heiligen Liborius im Paderborner Dom / © Nicolas Ottersbach (DR)
Prozession mit dem Schrein des heiligen Liborius im Paderborner Dom / © Nicolas Ottersbach ( DR )

In diesem Kontext, da verändern sich Strukturen. Am Anfang gibt es immer nur Berührungsreliquien: Tücher auf das Grab gelegt, Wasser, das vom Grab herunterläuft. Die berühmteste Reliquie des Karolingerreichs ist eine Berührungsreliquie. Das ist die Cappa des heiligen Martin, der Mantel Martins. Das ist die berühmteste Reliquie überhaupt..

Das verändert sich in dem Augenblick, wo sich das Christentum verbreitet. Es herrscht die Vorstellung, dass überall, wo ein Altar ist, auch ein Heiliger oder die Überreste eines Heiligen, einer Heiligen sein müssen. In dem Augenblick fängt man dann an – und zwar fängt man in Rom an, obwohl das dort am Anfang sehr verpönt ist – Leiber zu teilen, damit auch die neuen Altäre im Sachsenland oder in der nordischen Mission oder wo auch immer Heiligenverehrung haben können.

Einen Heiligen am Altar, der dann die Bitten der Menschen zu Gott trägt, das ist eine Idee von Vermittlung, die dahintersteckt.

DOMRADIO.DE: Bei der Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier 1996 sagte der damalige Bischof von Trier, Hermann Josef Spital, die Echtheit der Reliquie sei gar nicht so die erste Frage. Es käme vielmehr auf die Christusverehrung oder auf das an, was dahintersteht. Und aus dem unerwartet großen Pilgerstrom damals sind schließlich die jährlich stattfindenden  Heilig-Rock-Tage entstanden – ähnlich auch hier in Köln die Wiederbelebung der Dreikönigswallfahrt. Welche Rolle spielt heute diese aufklärerische Frage nach der Echtheit der Reliquien bei deren Verehrung? 

Der Trierer Bischof Stephan Ackermann steht vor dem Schrein, in dem laut Überlieferung der heilige Rock Jesu liegt / © Harald Tittel (dpa)
Der Trierer Bischof Stephan Ackermann steht vor dem Schrein, in dem laut Überlieferung der heilige Rock Jesu liegt / © Harald Tittel ( dpa )

Gisela Muschiol

"Die Echtheit ist mit der Aufklärung ein Thema geworden und auch nicht mehr verloren gegangen."

Muschiol: Die spielt schon eine große Rolle. Es gibt verschiedene Interpretationen. Der Trierer Bischof hat nur eine geliefert. Das Bestimmende ist tatsächlich nicht mehr die Echtheit, sondern das Bestimmende ist die Christusbezogenheit, wie er es nennt. Ich würde die Tradition mit einbeziehen.

Wer zu einem bestimmten Ort wallfahrtet, zu dem es schon lange Wallfahrten gibt, stellt sich in eine bestimmte Tradition mit hinein. Manchmal ist es ja auch diese Tradition der Gläubigen vor uns, die einfach interessant ist und in die man sich hineinstellen kann, dass man so ein Gefühl für eine die Zeiten überdauernde Frage der Christen gewinnt.

Das ist natürlich eine Frage, die ich mir auch als Historikerin stelle: Was hat eigentlich die Menschen vor 600 Jahren bewegt, nach Aachen zu ziehen? Wenn ich das versuche herauszubekommen, dann erfahre ich natürlich etwas über meine eigene Tradition als Christ.

Die Echtheit ist mit der Aufklärung ein Thema geworden und auch nicht mehr verloren gegangen. Ich denke mir , dass wir heute bei den meisten Reliquien wissen, dass sie nicht echt sind im Sinne von unmittelbar mit einer ganz bestimmten Person in Verbindung zu bringen. Das können wir auch an vielen Stellen überhaupt nicht mehr nachkontrollieren.

Wir fahren mit dem Zug, mit dem Auto, setzen uns allenfalls aufs Rad, wenn wir eine Wallfahrt machen. Die Pilger des Mittelalters gingen zu Fuß. Sich in diese Tradition zu stellen, das ist etwas, was die Faszination heutiger Wallfahrten ausmachen kann.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Was sind Reliquien?

Reliquien sind die sterblichen Überreste von als heilig verehrten Personen. Primäre Reliquien sind dabei die Leichname von Seligen oder Heiligen, größere Körperteile von diesen oder die komplette Asche ihrer verbrannten Körper.

Ein Reliquiar in Gestalt einer Reliquienprozession aus dem Jahr 1893 / © Oliver Berg (dpa)
Ein Reliquiar in Gestalt einer Reliquienprozession aus dem Jahr 1893 / © Oliver Berg ( dpa )
Quelle:
DR