DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung haben die Tage ab diesem Mittwoch im Vatikan für die Kirche?
Prof. Dr. Dr. Jörg Bölling (Institut für Katholische Theologie der Universität Hildesheim): Sie sind von ganz zentraler Bedeutung, weil das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche gewählt werden wird. Dieses ist mit einem Jurisdiktionsprimat ausgestattet. Es ist also zuständig für das Lehramt und auch für alle rechtlichen Fragen, die sich letztlich überall auf der Welt ergeben können. Schon seit frühester Zeit hat das Papsttum so eine Art Schiedsrichterfunktion eingenommen – durch Anfragen, die ursprünglich von außen kamen.
Durch das Erste Vatikanische Konzil, wo das Unfehlbarkeitsdogma verkündet worden ist, hat der Papst darüber hinaus in speziellen Fragen, die den Glauben und die Moral betreffen, im Zweifelsfall dann sogar die maßgebliche Entscheidung zu treffen, auch wenn er davon bisher nur sehr wenig Gebrauch gemacht hat.
DOMRADIO.DE: Das alles ist in ein umfangreiches Zeremoniell eingebunden. Das mag manch einem vielleicht als etwas verstaubt daherkommen. Wie alt sind denn die liturgischen Riten rund um die Papstwahl und die Amtseinführung?
Bölling: Da tun sich konzentrische Kreise auf. Einige Aspekte sind schon sehr früh nachweisbar. Überhaupt einmal, dass es eine Wahl gibt, ist ja nicht selbstverständlich. Da wird nicht einfach irgendein Kind Nachfolgerin oder Nachfolger eines Elternteils, sondern da wird jemand gewählt. Das kennen wir ja schon aus der Apostelgeschichte – teilweise auch durch Losverfahren, hier durch eine Wahl.
So ist es auch sehr früh schon beim römischen Papsttum, beim Bischof von Rom, nachweisbar. Ursprünglich heißt es dort, Klerus und Volk wählen den Papst. Aber man kann sich ja vorstellen, dass Volk in der Spätantike etwas anderes ist als heute. Man darf sich das also nicht zu demokratisch vorstellen. Die einflussreichen Familien haben untereinander überlegt, wen sie aus den eigenen Reihen wählen können.
Um den Einfluss des Adels zurückzudrängen, hat man sich dann bestimmte Formalitäten überlegt, die genau diese Einflussnahme von mächtiger, weltlicher, familiärer Seite zunächst ein wenig begrenzen und später sogar ganz ausschließen sollten. So sind seit knapp 1.000 Jahren nur noch die Kardinäle maßgeblich.
DOMRADIO.DE: Eine Entwicklung vom römischen Klüngel zum Kardinalsklüngel?
Bölling: Man kennt es ja so schön durch die Alliteration als Kölschen Klüngel. Ob das hier der passende Ausdruck dafür ist, weiß ich nicht. Hier geht es darum, dass es sich um eine wahlberechtigte Institution, ein Gremium handelt, das dafür bestellt ist. Da kann man sich natürlich fragen, wie sich das zusammensetzt und wie es zu dieser Zusammensetzung kommt, die in letzter Zeit auch häufiger diskutiert worden ist.
Sollen das dann wirklich nur die Personen sein, die sich untereinander womöglich aus Rom kennen? Oder sollte nicht doch eher die Weltkirche insgesamt präsentiert sein? In den letzten Jahren hat mehr an Bedeutung gewonnen, dass Kardinäle aus allen Teilen der Welt zunehmend, nicht nur in den Jahren, sondern auch Jahrzehnten, hier berücksichtigt sind.
Das ist eine Entwicklung, die seit dem Papstwahldekret von 1059 an Fahrt aufgenommen hat. Da hatten zunächst die Kardinalbischöfe, also letztlich die Bischöfe der Kirchenprovinz Rom mit dem Papst als Metropoliten, eine entscheidende Rolle.
Dann kamen später die Kardinalpriester hinzu, die ursprünglich in Rom selbst als Priester tätig waren und heute noch als Kardinäle eine entsprechende Titelkirche zugewiesen bekommen. Auch die Kardinaldiakone bekamen eine ganz ähnliche Rolle, ungeachtet ihres jeweiligen Kardinalsranges. Das ist die Situation, die wir heute noch haben.
DOMRADIO.DE: Das Zeremoniell der Päpste insgesamt, sowohl beim "Urbi et Orbi" als auch bei der Amtseinführung, ist im Laufe der Zeit immer stärker vereinfacht worden. Medial wird dies als fortschrittlich und die Kirche erdend empfunden. Bedauern Sie als Historiker vielleicht den Verlust mancher Riten und Bräuche?
Bölling: Im Zeremoniell war die Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts zentral für die folgenden Jahrhunderte bis ins 20. Jahrhundert. Die letzte Papstkrönung 1963 hat noch auf der Grundlage eines Textes stattgefunden, der schon im 16. Jahrhundert erstmals – übrigens ursprünglich verbotenerweise – gedruckt worden ist und sich handschriftlich schon viel früher findet. Das sind natürlich Kontinuitäten, die aus einer historischen Perspektive erst einmal sehr demütig werden lassen.
Zugleich sagen die Zeremoniare eben dieser Zeit aber auch, dass sie all das in den Zeremonienbüchern aufschreiben, weil manches nicht mehr verstanden wird und manches, was geschrieben steht, auch gar nicht mehr in Übung ist. Einen gewissen Wechsel hat es also immer gegeben. Da gibt es die bereits erwähnten konzentrischen Kreise. Es gibt einen Kern, wie bei den Sakramenten, der nicht aufgegeben werden kann. Es gibt dann Sakramentalien, die sich zum Teil dann auch noch ausdeutend finden.
Die Zeremonien, die einiges als äußeres Zeichen für etwas, das dahintersteht, deutlicher vor Augen führen wollen, die können sich durchaus auch in Teilen ändern. Diejenigen, die sie wahrnehmen, sehen und hören, sollen verstehen, was damit verbunden sein soll und dem Glauben nach auch verbunden ist.
Andererseits zeigt sich bei bestimmten alten Zeremonien das Alter der Institution, die Erhabenheit des Amtes seinem Anspruch nach und vielleicht doch auch etwas göttlich Schönes, das es dauerhaft zu bewahren gilt. Wo da die Grenze ist, wird man sicherlich immer wieder neu diskutieren müssen. Aber selbst Personen, die alldem – auch Religion vielleicht – insgesamt fernstehen, sind doch jetzt interessiert daran, wie die Wahl abläuft und wie sie am Ende ausgehen wird.
DOMRADIO.DE: Zu alledem kommt viel Musik. Da gab und gibt es immer wieder Auseinandersetzungen in der Kirche, wie beherrschend die Kirchenmusik in der Liturgie sein darf. Welche Praxis beobachten Sie da im Vatikan?
Bölling: Man kann dort eine Praxis hören, die man insbesondere auch aus dem angloamerikanischen Raum kennt. Dort gibt es noch einen Knabensopran, wie das der Fall bei Chören in Deutschland zum Beispiel bei den Regensburger Domspatzen oder im Paderborner Dom der Fall ist. Es gibt auch im weltlichen Bereich spezielle Chöre, die dieses Ideal der sogenannten Voci bianche noch aufrechterhalten.
Dort sind Jungenstimmen zu hören, die ein ganz besonderes Timbre haben, was physikalisch am vierten Formanten liegt – ein etwas größerer Kehlkopf offenbar schon im Knabenalter –, der dann anders klingt als etwa Stimmen von Mädchen. Für die gibt es dann ja auch wieder die Mädchenkantorei. Der Sopran wird hier also nicht von Frauenstimmen – und auch in dem Fall jetzt nicht von Mädchenstimmen – gesungen, sondern von Jungenstimmen. In der Regel gilt das auch für den Alt, wo im angloamerikanischen Raum dann entsprechend Altus-Solisten und Altus-Sänger, die ausgewachsene Männer sind, den Part übernehmen. Tenor und Bass werden in diesem Kontext traditionell ohnehin von Männerstimmen zu hören sein.
Diese Praxis ist etwas Besonderes. In der Renaissance war das übrigens nicht unbedingt so. Da gab es vor etwa 500 Jahren nur einzelne Pontifikate, wo überhaupt Knabenstimmen vorgesehen waren. Da haben auch diesen Part in der Regel hochsingende Männer übernommen.
DOMRADIO.DE: Da sind wir dann auch beim Thema Männer und Frauen. Die katholische Kirche sieht sich immer wieder der Kritik ausgesetzt, dass Frauen an bestimmten Stellen zu wenig in ihr vorkommen. Gleichzeitig übt sie auch auf die säkulare Welt eine gewisse Faszination aus, wie auch in diesen Tagen zu merken ist. Wie kann die katholische Kirche in diesem Spannungsfeld von Tradition und Moderne künftig am besten agieren?
Bölling: Das ist eine sehr gute Frage, die sich besonders an eine Pastoraltheologin oder einen Pastoraltheologen und liturgiewissenschaftlich Kundige wendet. Ich kann jetzt nur aus historischer Perspektive sagen, dass es ja auch umgekehrt weibliche Ensembles schon sehr früh gab, wenn man etwa an das Ensemble von Vivaldi denkt. Dort konnten offensichtlich auch Mädchenstimmen Bass singen, also genau umgekehrt.
Ich empfinde es persönlich als große Bereicherung, dass wir auch Mädchenkantoreien gerade an unseren großen Kathedralkirchen haben und gemischte Chöre ohnehin. Inwieweit sich das jetzt in der Papstliturgie noch umsetzen ließe, wäre etwas, das dann vor Ort zu entscheiden wäre.
Umgekehrt ist es sicherlich nicht falsch, bestehende und funktionierende Traditionen weiterhin zu pflegen. Denn wenn die einmal abbrechen – dass also Jungen nicht nur Fußball spielen, sondern auch sehr frühzeitig singen lernen, wie das bei Mädchen oft weniger schwierig zu erreichen ist –, dann würde ich sagen, sollte man das auch unbedingt fördern, dass Jungen zu solchen musischen Fähigkeiten angeleitet und darin unterstützt werden.
DOMRADIO.DE: Mit welchen Erwartungen schauen Sie in den nächsten Tagen auf den Vatikan?
Bölling: Ich habe mir vorab mit der Familie sogar einige Filme angeschaut, also natürlich den Konklave-Film, der jetzt gerade im Kino lief, und dann nochmal "The Shoes of the Fisherman", diesen älteren von 1968. Das ist natürlich alles sehr spannend.
Mit großem Interesse habe ich bei der Heiligen Messe der Kardinäle unmittelbar vor dem Konklave wahrgenommen, dass etwa bei den Teilen in der Liturgie, die sich ändern können, dem sogenannten Proprium, jetzt ein anderer Eingangsgesang erklingen wird als beim letzten Mal im Jahr 2013. Es erklingt jetzt wieder derselbe Introitus, der schon im Messbuch von 1570 vorgesehen war: Suscitábo mihi sacerdótem fidélem (Ich werde mir einen treuen Priester erwecken).
Daran sieht man, dass bestimmte Dinge durchaus zu ändern sind, aber andere, die man vielleicht aus verschiedenen Gründen besonders wertschätzen kann, auch wieder aus der reichen Schatzkiste der Tradition hervorgeholt werden können, ohne dass damit andere Formen komplett aufgegeben werden müssten, die sich mittlerweile etabliert haben.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.