Kirche will zur Beruhigung der Lage beitragen

Eine Stuttgart-21-freie Zone

In Stuttgart wurde am Samstag gleich zweimal demonstriert. Befürworter und Gegner des umstrittenen Bahnprojekts Stuttgart 21 machten nur wenige hundert Meter voneinander mobil. Die Lager scheinen sich unversönlich gegenüber zu stehen. Die katholische Kirche in Stuttgart versucht neutral zu bleiben und zu schlichten.

Autor/in:
Michael Jacquemain
 (DR)

"Ja", erinnert sich Schwester Nicola, "da war die ältere Dame, die sich viele Gedanken über die geologische Situation in Stuttgart gemacht hatte." Und auch eine andere Seniorin brachte ihre Zweifel über das Bahnprojekt Stuttgart 21 zum Ausdruck. Aber insgesamt spielt Deutschlands umstrittenstes Bauvorhaben in der Passantenseelsorge am Dom Sankt Eberhard kaum eine Rolle. 300 Meter vom Bahnhof entfernt gehe es fast nur um Persönliches, erzählt die Ordensfrau von den Sießener Franziskanerinnen.



"Natürlich ist Stuttgart 21 ein Thema in den Pfarrgemeinden. Aber es ist nicht das Thema der Gemeinden", weiß Alexander Lahl, Geschäftsführer des Katholischen Stadtdekanates Stuttgart. Anders als auf den Straßen der baden-württembergischen Landeshauptstadt mutiert das Milliardenprojekt im Kirchenraum nicht zur Glaubensfrage. Was sonst Betriebe, Bekannte und sogar Beziehungen entzweien kann, spielt in den Pfarreien nur eine geringe Rolle. Oben bleiben oder unterirdisch werden? In den Gemeinden kann beides geglaubt werden, ohne dass Wasserwerfer bemüht werden müssen. Selbst in Sankt Eberhard, der Pfarrei, zu der das Bahnhofsgebäude gehört.



Bei Stuttgart 21 geht es schon lange um mehr als um Argumente: Es geht um gut und böse, um Wahrheit und Lüge. Viele Gegner und Befürworter funktionieren nach der messianischen Botschaft aus dem Matthäus-Evangelium: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich." Quasireligiöse Züge haben auch die Absperrgitter am Nordflügel des Hauptbahnhofs. An der neuen Klagemauer bekennen Stuttgart-21-Gegner, warum sie gegen das Projekt sind. Teils lustig und teils lächerlich, teils lyrisch und teils larmoyant.



"Wir als Kirche werden von den Auseinandersetzungen nicht gelähmt", sagt Lahl. Aus seiner Sicht honorieren es die allermeisten Christen, dass die Kirchen es bewusst vermieden haben, beim Heiligen Krieg um den Bahnhof Partei zu ergreifen. "Wir nehmen die Rolle des Vermittlers ein", berichtet Lahl. Und liegt damit ebenso wie Stadtdekan Michael Brock auf der Linie, die die württembergischen Bischöfe vertreten. Wiederholt forderten Gebhard Fürst und sein evangelisches Pendant Frank July, besonnen zu bleiben und auf Gewalt zu verzichten.



Brock gelang es Ende September, Befürworter und Gegner im Haus der katholischen Kirche erstmals an einen Tisch zu bringen. Stuttgart könne es sich nicht leisten, dass das Projekt über Jahre hinweg die Bürgerschaft polarisiere. Viel Lob aus der Bevölkerung bekam Brock für sein Engagement. Doch wie sehr die Nerven blank lagen und liegen und wie schwierig der Drahtseilakt der Unparteilichkeit ist merkte der Prälat, als er bereits vor dem Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray von einer Politik "in Rambomanier" sprach und den Projektgegnern vorwarf, zu früh weitere Unterredungen auszuschließen. Sofort setzte sich die Empörungsmaschinerie in Gang.



Es ist schwer, eine Stuttgart-21-freie Zone sein zu wollen. "Wir beten in Sankt Eberhard für eine friedliche Verhandlungsbasis", sagt Schwester Nicola. Sie selbst hat Verständnis für die Argumente beider Seiten. "Langsam wird es ruhiger", hofft Lahl und meint damit die Gespräche unter Leitung des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler. Ob sie Erfolg haben? Lahl zuckt die Schultern.