Kaukasus-Experte äußert große Sorgen um Georgien

"Orthodoxe Kirche ist sehr still"

Tausende haben in Georgien am Donnerstag gegen die prorussische Regierung protestiert. Zuvor hatte die nationalkonservative Regierung den EU-Beitrittsprozess für gestoppt erklärt. Auch für die Kirchen ist die Situation problematisch.

Autor/in:
Johannes Schröer
Proteste nach Georgiens Absage an die EU / © Zurab Tsertsvadze (dpa)
Proteste nach Georgiens Absage an die EU / © Zurab Tsertsvadze ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie kritisch ist denn die Situation? 

Matthias Kopp (KNA)
Matthias Kopp / ( KNA )

Matthias Kopp (Kaukasus-Experte, Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz): Es sind unglaubliche und auch dramatische Bilder, die uns in diesen Tagen aus Georgien erreichen. Ich halte die Situation für außerordentlich kritisch und angespannt. Dass hier ein Staat, dessen Bevölkerung zum allergrößten Teil, nämlich 80 Prozent, einen EU-Beitritt wünscht, hier den radikalen Kurs fährt und die Gespräche aussetzt, ist etwas, was ich mir persönlich vor vier bis fünf Jahren nicht hätte vorstellen können. 

Die Regierungspartei "Georgischer Traum" versucht hier etwas prorussisch und moskautreu zu zementieren, was für den friedlichen Fortbestand des Landes von außerordentlicher Gefahr ist. 

Wir hatten den 26. Oktober mit den sehr fraglichen Wahlen in Georgien. Und wir haben die Entwicklung, dass die georgische Regierung mit der Konstituierung des Parlaments vor wenigen Tagen gesagt hat, sie mache eine Verfassungsänderung, damit künftig der Staatspräsident von Wahlmännern und -frauen gewählt werde. Nicht mehr vom Volk. 

Das ist der Versuch, die proeuropäische Staatspräsidentin auszuschalten und einen ehemaligen Fußballer und Richter ohne größere Ausbildung als Präsidenten zu etablieren. So hat es die Regierung schon angekündigt. Ich bin äußerst besorgt über das, was dort in Georgien passiert. 

Brennende Mülltonne bei Demonstration in Tiflis / © Zurab Tsertsvadze (dpa)
Brennende Mülltonne bei Demonstration in Tiflis / © Zurab Tsertsvadze ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie sagten, dass 80 Prozent für einen EU-Beitritt Georgiens seien. Gilt das als gesichert? 

Kopp: Das sind Zahlen, die uns zumindest politische Stiftungen übermitteln. Das ist diese Diskrepanz, die man nicht versteht, dass viele Georgierinnen und Georgier einen europäischen Beitritt wollen, dieses Sprungbrett nutzen wollen und dass trotzdem von ihnen ein ganzer Teil offensichtlich den "Georgischen Traum" als Regierungspartei gewählt hat, die genau das nicht wollen. 

Diese Diskrepanz ist nicht aufzulösen. Aber ich glaube, dass der Großteil der Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, eindeutig die sind, die sich diesen Weg nach Europa wünschen. 

Matthias Kopp

"Es ist für Georgien eine äußerst kritische Situation."

DOMRADIO.DE: Was heißt das denn für Georgien, wenn jetzt die Verhandlungen mit Brüssel zum EU-Beitritt gestoppt sind? 

Kopp: Georgien hat ja angedeutet, keine Fördergelder mehr von der EU zu wünschen, dann soll das auch so sein.

Ich glaube, dass die EU gut beraten ist, hier einen harten Kurs zu fahren. Das wird man nicht mit Sanktionen machen. Aber wenn Georgien jetzt durch die Regierung nicht an den Beitrittsverhandlungen teilnehmen möchte, muss die Antwort klar sein. Das wird auch Fragen aufwerfen, bis hin zur Visafreiheit, ob sie noch aufrechterhalten werden kann. Es ist für Georgien eine äußerst kritische Situation. 

DOMRADIO.DE: Demonstrationen gibt es ja schon seit dem umstrittenen Wahlsieg. Da ist von Wahlbetrug der prorussischen Partei die Rede. Wie kann dieser Konflikt ausgehen? 

Kopp: Die Demonstrationen gibt es ja schon länger vor den Wahlen, nämlich als dieses sogenannte Agentengesetz eingeführt wurde, wonach ausländische Organisationen, die über 20 Prozent ihrer Arbeit vom Ausland her finanzieren, sich beim Staat registrieren lassen müssen. Das war im Frühjahr dieses Jahres. Da begannen die Proteste. Dann gab es eine Ruhe im Sommer und noch mal Proteste zu den Wahlen, jetzt die Proteste mit dem Regierungsbeginn. 

Tausende demonstrieren nach Georgiens Absage an die EU / © Zurab Tsertsvadze (dpa)
Tausende demonstrieren nach Georgiens Absage an die EU / © Zurab Tsertsvadze ( dpa )

Die Menschen gehen auf die Straße, weil es vor allem eine junge Generation in Georgien ist, die diese Moskau-Nähe nicht wünscht. Weil man das aus anderen Staaten kennt, was dann passiert, nämlich ein Satellit von Moskau zu sein. Diese Situation ist für Georgien kritisch. 

Die Gewaltanwendung der Militärs und Polizei und vermummten Schlägertrupps der letzten 24 Stunden finde ich erschreckend. Man kann hier nur zur Mäßigung aufrufen. Das Recht auf eine Demonstration und eine freie Meinungsäußerung muss auch in Georgien uneingeschränkt möglich sein. 

DOMRADIO.DE: Aus der Geschichte, zum Beispiel dem Prager Frühling, ist bekannt, dass Russland durchaus auch sehr rabiat eingreifen kann. Besteht diese Gefahr auch in Georgien? 

Kopp: Ich hoffe, dass Russland nicht eingreift. Und ich hoffe, dass der "Georgische Traum" noch irgendwie so zur Vernunft kommt, dass die vielen Menschen auf der Straße eine klare Antwort auf das sind, was der "Georgische Traum" in den letzten Tagen angestellt hat. 

Hier wird die parlamentarische Demokratie ausgehöhlt, und jetzt kommt es auf die Georgierinnen und Georgier an, auf die Straße zu gehen und für diese Errungenschaft der Demokratie weiterzukämpfen, die es seit 30 Jahren gibt. 

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt die orthodoxe Kirche, der die meisten Menschen dort angehören? 

Kopp: Die orthodoxe Kirche ist in diesen Tagen sehr still. Sie hat immer eine gewisse Nähe zur Regierung gehabt. Sie ist sicherlich nicht so präsent wie die russisch-orthodoxe Kirche in Moskau. Ich bin sehr gespannt, was das Patriarchat dort in den nächsten Tagen möglicherweise verlauten lässt.

Ich glaube allerdings, dass es hier gut wäre, wenn Kirche und Staat getrennte Wege gehen. Denn das, was der Patriarch der Moskauer Kirche bei Putin mit reinzureden versucht, auch öffentlich, das darf in Georgien nicht passieren. 

Matthias Kopp

"Die Katholikinnen und Katholiken versuchen dort in dieser Situation gewissermaßen ruhig Blut zu bewahren."

DOMRADIO.DE: In Georgien gehören nur wenige Menschen der katholischen Kirche an. Wie schätzen Sie die Situation der katholischen Gläubigen ein? Die deutsche Bischofskonferenz hat ja Kontakte dorthin. 

Kopp: Es gibt ein Prozent Katholiken in Georgien, die von einem Apostolischen Administrator Giuseppe Pasotto geleitet werden. Er ist ein italienischer Bischof. Die Katholikinnen und Katholiken versuchen dort in dieser Situation gewissermaßen ruhig Blut zu bewahren, denn sie wären die ersten, die mit unter die Räder kommen. 

Wir haben ja gerade die Problematik, dass wir auf die Zukunft hin nicht wissen, wie sich dieses sogenannte Agentengesetz auswirkt. Denn ein ganzer Teil der Caritasarbeit zum Beispiel für die katholische Kirche in Georgien und weit darüber hinaus, also auch zu anderen Menschen in Georgien, wird zu einem ganz großen Teil aus dem Ausland finanziert. Das werden wir in den nächsten Wochen beobachten müssen, wie sich dieses Agentengesetz und die Lage auf die Katholikinnen und Katholiken auswirken. 

DOMRADIO.DE: Da steht einiges auf der Kippe, oder? 

Kopp: Ich habe wirklich große Sorgen. Georgien hat immer diesen Kampf der Freiheit gewagt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, nach dem Angriff Russlands 2008, als Russland über Ossetien nach Georgien einmarschiert ist und damals zum Glück durch EU-Vermittlungen Russland zum Rückzug gebracht werden konnte. Aber was jetzt los ist, auch in der Bevölkerung, hat neue Qualitäten, wo wir nur beten können, dass das weiterhin irgendwie friedlich läuft. 

Das Interview führte Johannes Schröer.

Verletzte bei Protesten von Regierungskritikern in Georgien

Bei den Protesten in Georgien wegen der Absage der Regierung an Beitrittsgespräche mit der EU sind mehrere Menschen verletzt worden. In der Hauptstadt Tiflis (Tbilissi) wurden Medienberichten zufolge mindestens 18 Polizisten und eine noch nicht bekannte Zahl an Demonstranten verletzt. Demnach gab es auch mehrere Festnahmen. Die Proteste dauerten auch am frühen Morgen noch an. Kundgebungen mit proeuropäischem Tenor und Hunderten Teilnehmern wurden auch aus den großen Städten Batumi, Kutaissi, Gori und Sugdidi gemeldet.

Demonstrationen nach Georgiens Absage an die EU / © Zurab Tsertsvadze (dpa)
Demonstrationen nach Georgiens Absage an die EU / © Zurab Tsertsvadze ( dpa )
Quelle:
DR