DOMRADIO.DE: Die Seniorenorganisationen machen sich große Sorgen um die Teilhabe älterer Menschen. Sie sind auch Mitglied im Fachbeirat "Digitalisierung und Bildung für ältere Menschen" im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Was genau bringen Sie denn da ein?
Elisabeth Vanderheiden (Bundesvorsitzende der Katholische Erwachsenenbildung Deutschlands): Ich glaube, man muss noch mal ein bisschen genauer auf das Phänomen gucken. Das ist ja ein bisschen schizophren. Einerseits finde ich, dass wir an vielen Stellen ein digitales Entwicklungsland sind und richtig nach vorne puschen müssen, damit das hier mit der Digitalisierung noch mal was wird.
Gleichzeitig stellen wir aber fest, dass so, wie es jetzt läuft, viele Menschen ausgeschlossen werden. Und das geht natürlich gar nicht, denn es kann keinen Digitalzwang geben.
Das ist ein Phänomen, das wir auch aus anderen Zusammenhängen kennen. Wenn wir zum Beispiel anschauen, wer eigentlich digitale Anwendungen entwickelt oder wer die Rahmenbedingungen definiert, dann sind das in der Regel Menschen, die nicht selber davon betroffen sind, dass sie ausgeschlossen werden.
Untersuchungen sagen, dass viele ältere Menschen ausgeschlossen werden, aber auch Menschen, die andere Handicaps haben, wie zum Beispiel ein geringes Einkommen oder eine Behinderung. Da müssen wir ganz genau aufpassen, dass wir Anwendungen so entwickeln, dass wir sie auch unter Beteiligung der Menschen entwickeln, die sie nutzen sollen.
Wir kennen das zum Beispiel aus der Gendermedizin. Da orientieren sich medizinische Studien und die Medikamentenentwicklung am männlichen Normbeispiel. Und dann passt das für die Frauen eben nicht.
So ähnlich ist das mit der Digitalisierung auch. Da werden Apps entwickelt und man hat die im Blick, die sowieso schon digital affin sind, die gute Technik haben und die vielleicht eine gute Internetausstattung und ein tolles Breitbandnetz haben, was ja in Deutschland noch lange nicht jeder hat.
Wenn man zum Beispiel mal in Pflegeheime schaut, dann haben die Menschen dort keinen Anspruch auf WLAN. Da tut sich gerade was, aber da müssen wir noch richtig viel tun, damit auch diese Menschen, die egal in welcher Weise sie mit Handicaps konfrontiert sind, eine Chance haben.
DOMRADIO.DE: Oft wird es ja so gehandhabt: Wenn die Oma oder der Opa nicht klar kommen, dann müssen sie halt die Enkel fragen. Die können ihnen dann helfen und zum Beispiel Arzttermine machen. So kann es aber nicht laufen, sagen Sie?
Vanderheiden: Nein, natürlich nicht. Es gibt ja Grundrechte, die jeder Mensch hat. Das ist das Recht auf Selbstbestimmung, das ist das Recht auf Freiheit, das ist das Recht auf Teilhabe in allen Lebensbereichen. Es kann nicht sein, dass das nur dann funktioniert, wenn ich einen Enkel habe oder wenn ich samstags noch auf den Markt gehe und die Marktfrau oder den Marktmann fragen kann, wie meine ältere Mutter das macht. Das kann nicht sein.
Es gibt ein Grundrecht darauf, zu verstehen, wie diese Gesellschaft funktioniert, daran teilzuhaben und sie mitzugestalten. Es ist unser aller Aufgabe, von denen, die Gesetze machen, bis zu denen, die andere Rahmenbedingungen stellen wie zum Beispiel Infrastruktur, darauf zu achten, dass solche Angebote inklusiv und gerecht sind.
DOMRADIO.DE: Auf der einen Seite muss man wahrscheinlich Senioren auch beispielsweise bei einer App Entwicklung mit einbeziehen. Auf der anderen Seite muss man auch die Bereitschaft schaffen, dass die überhaupt ein Handy in die Hand nehmen oder einen Computer verwenden. Man muss also ganz unterschiedliche, komplizierte Verhalten zusammenbringen. Wie kann das gehen?
Vanderheiden: Das ist richtig. Ich glaube, es kann mit niederschwelligen und mit aufsuchenden Angeboten gehen. Man kann nicht erwarten, dass ältere Menschen in eine Beratungsstelle der Volkshochschule oder eine katholische Erwachsenenbildungseinrichtung kommen und sagen: Erklär mir das jetzt mal alles!
Wir müssen im Kopf behalten, dass es zum Beispiel bei den über 75-jährigen 30 Prozent der Menschen gibt, die noch nie im Internet waren. Das heißt, ich kann ja nicht sagen: Du musst. Ich kann sagen: Das bringt einen Mehrwert. Ich kann sagen: Das erhöht deine Selbstbestimmung. Ich kann sagen: Das erhöht deine Selbstständigkeit, zu Hause zu bleiben. Aber das muss eine freie Entscheidung der betroffenen Person sein. Dafür müssen wir Sorge tragen.
Ich bin ein großer Fan von Digitalisierung und den Chancen, aber da darf man sich nicht selbst zum Maß der Dinge machen, sondern Menschen müssen auch das Recht haben, "Nein" zu sagen. Aber wenn sie "Nein" oder "Ja" sagen sollen, müssen sie eine Basis haben, sich einen Standpunkt zu entwickeln. Und den müssen wir gemeinsam bereitstellen, auch die Erwachsenenbildung.
DOMRADIO.DE: Gibt es denn schon Ansätze? Kennen Sie es, dass Senioren und Seniorinnen gefragt werden, wenn Apps entwickelt werden?
Vanderheiden: Damit beschäftigen wir uns auch gerade in unserem Fachbeirat. Es gibt immer wieder Entwickler oder Firmen, die klug genug sind, das zu tun. Ich glaube aber, dass es tatsächlich hilfreich wäre, wenn wir wie bei der KI-Entwicklung auch sagen, dass man dafür sorgen muss, dass KI, die wir anwenden, ethisch vertretbar oder inklusiv ist.
Da müssen wir auch auf regulatorischer Ebene was tun. Von alleine tut sich da nichts.
DOMRADIO.DE: Wenn man sich etwas wünschen dürfte, dann wäre eine App super, die immer gleich funktioniert und alle Felder und Lebensbereiche beinhaltet, die Senioren so brauchen. Meinen Sie, das wird ein Wunschtraum bleiben oder kriegt man so was irgendwann hin?
Vanderheiden: Ich weiß gar nicht so genau, ob ich den Wunsch mit ihnen teile, weil wir ja wissen, dass Daten das neue Gold sind. Wenn das alles in einer App wäre, dann wüsste der Anbieter ganz schön viel von uns. Ich glaube einfach, dass sie inklusiver sein müssten und niederschwelliger und barrierefreier. Dann gehen auch mehrere Apps.
Und wir müssen aufhören, bestimmte Vorurteile zu reproduzieren. Zum Beispiel, dass alte Menschen ein Senioren-Handy brauchen oder dass alte Menschen oder Menschen, die sonstige Beeinträchtigungen haben, super simple Sachen brauchen. Vielmehr müssen wir sie da einfach einbeziehen und bei der Entwicklung und Bereitstellung an das Wohl dieser Menschen denken. Dann funktioniert das auch mit mehreren Apps.
Das Interview führte Heike Sicconi.