Journalist Franz Alt würdigt verstorbenen Gorbatschow

"Er war ein großer Visionär"

Die Nachricht vom Tod des Friedennobelpreisträgers Michail Gorbatschow hat rund um den Globus viele Menschen bewegt. Auch der Journalist Franz Alt würdigt den Verstorbenen als Friedensstifter und "größten Abrüster aller Zeiten".

Blumen liegen am Denkmal Väter der Einheit des französischen Bildhauers Serge Mangin am Kopf des letzten Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow / © Christoph Soeder (dpa)
Blumen liegen am Denkmal Väter der Einheit des französischen Bildhauers Serge Mangin am Kopf des letzten Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow / © Christoph Soeder ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie haben 2016 gemeinsam mit Michail Gorbatschow ein Buch mit dem Titel "Kommt endlich zur Vernunft: Nie wieder Krieg" geschrieben. Wie haben Sie damals zusammengearbeitet?

Franz Alt / © Uli Deck (dpa)
Franz Alt / © Uli Deck ( dpa )

Franz Alt (Publizist und Journalist): Unsere Zusammenarbeit begann schon in den 1980ern. Ich hatte damals das Buch geschrieben: "Frieden ist möglich: Die Politik der Bergpredigt". Daraufhin hat mich ein militärischer Mitarbeiter von Gorbatschow besucht, ein General. Der hat gesagt, dass Gorbatschow sich das Buch auf Russisch habe übersetzen lassen. Und er sagte, was ich vorgeschlagen habe, eine Politik der Bergpredigt zu machen, das werden sie in Moskau machen – sie, die Kommunisten. Ich habe das damals kaum fassen können, aber es war so.

Gorbatschow hat den Vorschlag verstanden. Bergpredigt und Feindesliebe heißen ja nicht: Lass dir alles bieten. Sondern Feindesliebe heißt, sei klüger als dein Feind, mach den ersten Schritt auf ihn zu. Genau das hat Gorbatschow gemacht. Dieser General hat mir damals noch gesagt: Wir machen etwas ganz Furchtbares, wir nehmen euch euer Feindbild im Westen. Das fand ich sehr klug.

Auf der anderen Seite war Ronald Reagan ja kein Pazifist, sondern eher ein kalter Krieger. Aber Gorbatschow hat es geschafft, ein Vertrauen zu ihm aufzubauen. Sie haben gemeinsam die größten Abrüstungsschritte aller Zeiten hinbekommen. Gorbatschow wollte ursprünglich eine atomwaffenfreie Welt. Hat er mir später mal erzählt. Reagan hat gesagt, er wolle das eigentlich auch, kriege das aber gegenüber seinen Hardlinern nicht durch. Also haben Sie beschlossen, 80 Prozent der Atomwaffen abzubauen.

Das war der größte Abrüstungsschritt aller Zeiten auf Initiative von Gorbatschow. Er ist ein großer Friedensstifter. Wir haben ihm 30 Jahre Frieden zu verdanken. Welch ein tolles Geschenk – vor allen Dingen für uns Deutsche, das war Michail Gorbatschow.

DOMRADIO.DE: Wie genau hat sich denn Gorbatschow Frieden in Europa und Frieden auf der Welt vorgestellt?

Alt: Zunächst wollte er eine atomwaffenfreie Welt. Wir standen ja nahe am Abgrund. Wir standen wirklich am Atomkrieg. Gorbatschows große Leistung ist, dass wir wahrscheinlich heute noch leben, dass wir diese größte Gefahr aller Zeiten für die ganze Menschheit überlebt haben. Das ist sein großer Verdienst.

Gorbatschow wollte eine atomwaffenfreie Welt. Das sagt er auch in unserem gemeinsamen Buch. Er sagt: Wenn wir überleben wollen, dann brauchen wir zunächst eine atomwaffenfreie Welt. Ich habe ihn in unserem Buch auch gefragt, was dann die nächsten Schritte sind. Er sagte, es gebe drei Hauptaufgaben: Abrüsten, abrüsten, abrüsten, wenn wir auf dieser Welt eine Zukunft haben wollen. Das ist eigentlich sein großes Vermächtnis. Daran müssen wir trotz aller Kriegssituationen arbeiten, die wir gerade in der Ukraine, auch in Afrika oder im Jemen wieder haben.

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie es denn dann aber gemacht, dass Sie gemeinsam mit Michail Gorbatschow ein Buch geschrieben haben? Wie ist das abgelaufen?

Alt: Wir haben uns fünf oder sechs Mal in den letzten Jahren getroffen. Aber das Buch entstand dadurch, dass ich ihm zunächst meine Fragen geschickt habe. Ich habe vorgeschlagen, ich schreibe ein Vorwort und ein Nachwort zu diesem Buch, und das Zentrum des Buches sollte ein ausführliches Interview zum Thema Krieg und Frieden sein. So haben wir es gemacht.

Und zum Schluss, als ich seine Antworten hatte und auch übersetzen ließ, haben wir uns noch mal in Moskau getroffen, uns drei Stunden zusammengesetzt und sind das Buch noch mal Seite für Seite durchgegangen, bis es dann Anfang 2017, glaube ich, publiziert wurde mit dem schönen Titel – ach wie aktuell: "Kommt endlich zur Vernunft: Nie wieder Krieg!"

DOMRADIO.DE: Michail Gorbatschow war Sohn einer Ukrainerin und selbst mit einer Ukrainerin verheiratet. Das sind enge Familienbande, die es ja oft zwischen Ukrainern und Russen gibt. Was zeigt das? Wofür steht das?

Alt: Das steht für ein ganz enges Verhältnis dieser beiden Länder, die ja unter uns Deutschen im Zweiten Weltkrieg gemeinsam Furchtbares erlitten haben. Die Ukrainer haben Millionen Menschen verloren und die Russen auch. Für mich ist es eines der größten politischen Wunder, die ich in meinem Leben erleben durfte, dass uns die östlichen Völker – auch die Polen – neben den Russen und den Ukrainern nach 1945 verziehen haben und wieder mit uns zusammengearbeitet haben.

Auch Gorbatschow hat gesagt, das ist für ihn ein Wunder, dass das russische Volk dem deutschen Volk verziehen hat. Gorbatschow hat in seiner Familie auch Schreckliches erlebt. Vor allen Dingen sein Vater und sein Großvater haben Schreckliches von den Deutschen erlebt. Das belastet natürlich eine Familie. Er hat trotzdem diese große Vision gehabt: Europa muss sich vereinigen, Europa muss zusammenarbeiten. Und das Zentrum dieser Zusammenarbeit sind natürlich die Russen und die Deutschen. Das war seine große Friedensvision. Er war ein großer Visionär.

Ich habe ihn mal in einem unserer ersten Fernsehinterviews gefragt, woher er denn die Kraft nehme, das gegenüber den damaligen Hardlinern in der Sowjetunion das durchzusetzen, was er mir gerade von seiner Friedensvision erzählt hatte? Da sagte er, die Kraft stehe hier hinter der Kamera. Das war seine Frau – und er winkte seiner Raissa zu, und sie winkte ihm zurück.

Für mich ist Gorbatschow auch deshalb ein ganz großer Politiker, weil er einer der wenigen Weltpolitiker war, der immer gesagt hat: Ich höre auf Frauen. Da habe ich ihn mal gefragt, auf wen er denn konkret höre? Da sagte er, seine Mutter und seine Raissa. Das war seine Kraftquelle. Aus dieser Kraftquelle hat er geschöpft. Er war einer der wenigen Männer in der Weltpolitik, die mir immer wieder gesagt haben, seine Kraft komme von seiner Frau und von seiner Mutter.

DOMRADIO.DE: Was wissen Sie darüber, wie der schwerkranke Gorbatschow Putins Angriff auf die Ukraine erlebt und beurteilt hat?

Alt: Ich habe ihn in den letzten Monaten, im letzten halben Jahr, nicht mehr selber erlebt, aber einige seiner Freunde. Einer, der noch dabei war bei seinem 91. Geburtstag im März, hat mir berichtet, dass es ihm geistig noch ganz gut ging, dass er natürlich den Krieg klar verurteilt, dass er allerdings auch dem Westen Vorwürfe macht und sagt, der Westen habe sich nach dem Kalten Krieg, also nach 1989, als Sieger aufgespielt. Und das ist gegenüber einem Typ wie Putin eine ganz gefährliche Geschichte. Wenn er auf die Landkarte guckt und sieht, die NATO rückt immer näher an seine Grenzen, dann fühlt sich ein Typ wie Putin bedroht.

Putin ist in Sankt Petersburg in irgendeinem Hinterhof geboren und hat immer gesagt, er musste lernen, zurückzuschlagen. Wenn ich bestehen will, muss ich zurückschlagen. Und was wir privat für richtig halten, machen wir auch politisch. Das macht er jetzt. Gorbatschow hat insofern auch dem Westen große Schuld gegeben an der Situation, aber natürlich den Krieg niemals gutgeheißen.

DOMRADIO.DE: Sie sagen, Gorbatschow war der größte Abrüster aller Zeiten. Wie viel Widerstandsfähigkeit gegen die Kriegstreiber sehen Sie aktuell im russischen Volk?

Alt: Ich habe einige Freunde in Russland und ich weiß schon, dass die Mehrheit zurzeit noch hinter Putin steht. Das muss man einfach so hinnehmen. Das ist leider so. Nawalny ist aber nur ein Stichwort. Als Nawalny zum Widerstand aufrief, sind Hunderttausende Russen auf die Straßen gegangen. Die sind jetzt nicht alle Putin-Freunde geworden, weil Putin die Ukraine angreift. Und die vielen verwandtschaftlichen Verbindungen, diese Geschwisterlichkeit, die es zwischen Russen und Ukrainern gibt, wird langfristig dafür sorgen - davon sind auch einige meiner Freunde in Russland überzeugt -, dass der Widerstand wächst.

Der Widerstandsgeist der Ukrainer beeindruckt auch viele Russen. Aber die Russen haben keine freien Medien und keine freien Nachrichten wie wir im Westen. Das ist eines der Hauptprobleme. Sie haben in erster Linie die Staatsquellen. Das sind Putin-Quellen und sie werden hier falsch informiert. Das ist das Problem.

DOMRADIO.DE: Aufgrund des Krieges gibt es ja auch Sanktionen aus dem Westen. Es gibt Einreiseverbote nach Russland für hochrangige Gäste. Und nun wird Gorbatschow auf Moskaus berühmtem Prominentenfriedhof beerdigt, neben seiner Frau Raissa. Es wird heftig diskutiert, ob Politiker und hochrangige Menschen aus der Welt zu diesem Begräbnis gehen sollen beziehungsweise kommen dürfen. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Alt: Wenn ein Politiker, wie fast alle deutschen Politiker in diesen Tagen, sagt, wir haben dem Gorbatschow viel zu verdanken, wir haben ihm 30 Jahre Frieden zu verdanken, wir haben ihm Abrüstung, Sicherheit und die friedliche deutsche Einheit zu verdanken, dann sollten sie auch dahin fahren. Ich weiß nicht, ob die Russen das alles zulassen, aber ich bin sehr dafür, dass gerade deutsche Politiker an der Beisetzung dieses großen Deutschland-Freundes Michail Gorbatschow teilnehmen.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

Bischöfe: Gorbatschow steht dafür, dass Versöhnung möglich ist

Die katholischen Bischöfe in Deutschland würdigen den verstorbenen Michail Gorbatschow. "Die Welt wäre heute eine andere, hätte es ihn und sein beherztes Eingreifen zum Fall der Berliner Mauer damals nicht gegeben. Glasnost und das Ende des Eisernen Vorhangs sind ihm zu verdanken", schrieb der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, am Mittwoch auf Twitter.

Bischof Georg Bätzing auf dem Katholikentag / © Harald Oppitz (KNA)
Bischof Georg Bätzing auf dem Katholikentag / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR