DOMRADIO.DE: Können Sie zunächst erklären, was der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte regelt?
Stefan Keßler (Direktor des Jesuiten Flüchtlingsdienstes Berlin): Hier müssen zwei Begriffe geklärt werden. Als Familiennachzug bezeichnet man im Migrationsrecht die Möglichkeit, eine auseinandergerissene Familie wieder zu vereinen oder als neu gegründete Familie an einen gemeinsamen Wohnort zu ziehen.

Meistens geht es darum, dass jemand bereits mit einem Aufenthaltsrecht in Deutschland lebt und nun bestimmte Familienangehörige zu sich kommen lassen will. Die Möglichkeit dazu beschränkt sich auf die sogenannte Kernfamilie.
Das ist die Lebensgemeinschaft aus Eheleuten oder Lebenspartnern sowie gegebenenfalls deren minderjährigen Kindern. Schon die volljährigen Geschwister werden in der Regel nicht mehr zur Kernfamilie gerechnet, geschweige denn Großeltern, Tanten oder Onkel.
"Subsidiär Schutzberechtigte" sind Menschen, die im Falle ihrer Rückkehr in die Herkunftsländer dort etwa mit Folter oder Misshandlungen rechnen müssten oder wegen der willkürlichen Gewalt im Kontext eines (Bürger-) Krieges an Leib und Leben bedroht wären.
Sie werden nicht als Flüchtlinge anerkannt, genießen aber einen Schutzstatus und besitzen deshalb in Deutschland ein Aufenthaltsrecht. Zusammengefasst geht es somit darum, ob Menschen, die wegen enormer Gefahren in ihrem Herkunftsstaat nicht dorthin zurückkehren können, die Chance haben, mit ihrer Familie vereint zu werden oder nicht.
DOMRADIO.DE: Warum ist der Familiennachzug auch für die Integration der Flüchtlinge wichtig?
Keßler: Wenn man die Menschen etwa aus Afghanistan, Syrien oder Eritrea erlebt, die verzweifelt nach Möglichkeiten fragen, ihre Angehörigen aus der willkürlichen Gewalt heraus in Sicherheit zu bringen, dann begreift man die Sorge um die Familie.
Man begreift, dass das Bemühen, mit ihr in Kontakt zu bleiben, einen großen Teil der Kräfte bindet, die die hier lebenden Menschen haben. Sie können sich kaum auf ihre eigene Integration in Deutschland konzentrieren, weil sie in ständiger Angst um die im Herkunftsland Verbliebenen stehen.
Nur wenn sie ihre Angehörigen um sich und in Sicherheit wissen, können sie sich mit der Integration in Deutschland beschäftigen. Alles andere ist auch gefährlich für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
DOMRADIO.DE: Die Bundesregierung verspricht sich von der Aussetzung des Familiennachzugs einen erheblichen Effekt zur Begrenzung der Migration. Wie groß ist dieser Effekt?
Keßler: Beim Familiennachzug ist das Verfahren schon jetzt kompliziert und langwierig. Nach Angaben der Bundesregierung wurden im Jahr 2023 insgesamt 3.285 Visa für den Nachzug von Ehegatten zu subsidiär Schutzberechtigten erteilt; im Jahr 2024 waren es 3.215.
Glaubt jemand ernsthaft, dass bei solchen Zahlen die Aussetzung des Familiennachzugs einen nennenswerten Effekt auf die "Begrenzung der Migration" haben wird?

Hinzu kommt, dass CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag verkündet haben, man wolle die "irreguläre" Migration einschränken. Aber als eine der ersten Maßnahmen, nach den unsinnigen und rechtswidrigen Kontrollen der deutschen Grenzen innerhalb Europas, schafft man eine Möglichkeit der legalen Migration ab.
Fällt eigentlich niemandem in der Koalition auf, wie widersprüchlich dies ist? Es wird immer wieder zu Recht betont, wie wichtig die Zuwanderung besonders von Arbeitskräften für bestimmte Teile der deutschen Wirtschaft ist. Aber welcher Arbeitnehmer wird denn in ein Land gehen, in dem zumindest für bestimmte Gruppen das Recht auf Familienleben faktisch außer Kraft gesetzt wird?

DOMRADIO.DE: Ist es aus christlicher Perspektive nicht geboten, Familien zusammen zu führen?
Keßler: Ja, natürlich! Für das Christentum hat die Familie einen hohen Stellenwert.
Der verstorbene Papst Franziskus hat immer wieder die Bedeutung von Ehe und Familie sowohl für die Kirche wie auch für die Gesellschaft hervorgehoben: "Das Wohl der Familie ist entscheidend für die Zukunft der Welt und der Kirche."
DOMRADIO.DE: Sie appellieren also entschieden, die Möglichkeiten des Familiennachzugs aufrecht zu erhalten?
Keßler: Ja. Zum Wohle der betroffenen Menschen und ihrer Familien, aber auch für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
DOMRADIO.DE: Dann will die Bundesregierung ein weiteres Gesetz auf den Weg bringen, das die Möglichkeit der Einbürgerung für besonders integrierte Zuwanderer nach drei Jahren abschafft. Wie sinnvoll ist das?
Keßler: Sonderlich sinnvoll ist das nicht. Es sei denn, man hätte die Absicht, die Attraktivität Deutschlands für hochqualifizierte Einwanderer zu reduzieren, indem die Möglichkeit einer schnellen Einbürgerung für besonders qualifizierte und integrierte Ausländer abgeschafft wird.
DOMRADIO.DE: Ist das, was die Bundesregierung an Gesetzen zur Migrationspolitik auf den Weg bringt, Symbolpolitik? Oder sind das dringend notwendige Maßnahmen, um die "unkontrollierte Migration" besser zu regeln?
Keßler: Reale Probleme, etwa die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt, werden durch eine solche Politik jedenfalls nicht gelöst.
Die Fragen stellte Johannes Schröer.