Jazzpianist Dave Brubeck wird 90 Jahre alt

Die Ranch war seine Musikschule

Mit seinen verrückten Takten schrieb Dave Brubeck Musikgeschichte. Über sein Spätwerk "To Hope - A Celebration", eine moderne Jazz-Messe, fand der Jazzpianist spät zum Katholizismus. Am Montag wird der Mann, der eigentlich Cowboy werden sollte, 90 Jahre alt.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
 (DR)

Den Umgang mit ungeraden Takten hat er auf dem Rücken der Pferde gelernt. Auf seinen langen Ritten durch die Weiten Nordkaliforniens gab es viel Hufgeklapper nachzuklopfen, auf der Ranch das Rumpeln von Landmaschinen und das Quietschen der Wasserpumpe. David Warren Brubeck sollte Cowboy werden, nachdem sein Vater, Rancher mit 180 Quadratkilometern Weidefläche, schon zwei Söhne an die Musik verloren hatte. Dave wurde ein musikalischer Cowboy, dann ein allzu musikalischer Student der Veterinärmedizin.



Schon als Baby war David rund um die Uhr von Musik umgeben. Dabei herrschte Radioverbot auf der Ranch in Ione. Mutter Bessie, eine Pianistin aus England, sagte: "Wenn du Musik willst, mach sie selbst." Von ihr lernte Dave eine Menge; das Notenlesen aber schwänzte er lebenslang - was ihn beinahe sein Examen gekostet hätte.



An eine ganz andere Lektion seines Vaters erinnerte er sich für immer: "Mein Vater ritt mit mir zum Viehkauf unten am Sacramento River. Dort gab es so einen alten schwarzen Rodeoreiter, der hieß Shine. Und mein Vater sagte zu ihm: "Zieh dein Hemd hoch und zeig Dave deine Brust. Und da war dieses Brandzeichen."" Der Junge hatte schon viele Rinder beim Brandmarken gesehen; er kannte den Geruch von verbranntem Fleisch unter dem heißen Eisen. "Mein ganzes Leben habe ich daran gedacht und mir vorgenommen, meinen Teil dagegen zu unternehmen."



Erster Bandleader der US-Armee mit einer gemischten Kapelle

Im Zweiten Weltkrieg war Brubeck der erste Bandleader der US-Armee mit einer gemischten Kapelle. Und in den 50er Jahren, als ihn bei einer Tournee durch 25 Universitäten 23 vor die Alternative stellten, entweder seinen schwarzen Bassisten Gene Wright gegen einen weißen auszutauschen oder den Auftritt abzusagen, entschied er sich für die Absage. Und das zu einer Zeit, in der Brubeck materiell noch längst nicht arriviert war und mit seiner Familie in durchaus "prekärer Lage" durch die Lande tourte.



"All meine Helden waren schwarz", sagt Dave Brubeck. Duke Ellington, Teddy Wilson, Louis Armstrong, Fats Waller. Und er zitiert Sir George Shearing, den blinden Pianisten: "Mir ist es egal, ob jemand lila ist - Hauptsache, er kann spielen." Dave Brubeck konnte spielen: mit Woody Hermann, Miles Davis, Charly Parker, Count Basie oder Dizzy Gillespie. Sie verstanden ihn besser als die viele Kritiker, die ihn in die Ecke des "Cool Jazz" steckten - oder gleich gar nichts verstanden von seinem ausgefeilten Stil. Bei einem Konzert in der Carnegie Hall improvisierten sich alle Bandmitglieder in ein jeweils anderes Tempo. Und alle waren begeistert, dass sie das ganze Stück über ihre verschiedenen Rhythmen spielten. Nur der Kritiker schrieb: "Das Dave Brubeck Quartet kann nicht mal den gemeinsamen Takt halten."



Er selbst schöpfte aus den Quellen der Weltmusik und seiner kalifornischen Heimat Concord, einem Schmelztiegel aus mexikanischen, spanischen und portugiesischen Einflüssen. 1958 schickte die US-Regierung das Quartett für drei Monate auf eine Reise jenseits des Eisernen Vorhangs und in den Nahen Osten. So entstand, meist durch anfängliches Improvisieren, das Album "Time Out" (1959/60), dessen Songs der Band Platin und den Durchbruch verschafften: "Blue Rondo A La Turk" in 9/8, "Take Five" in 5/8, "Pick up Sticks" in 6/4 und "Unsquare Dance" in 7/4.



Einer von Amerikas größten Goodwill-Botschaftern

Brubeck wurde zu einem von Amerikas größten Goodwill-Botschaftern. Er spielte beim Reagan-Gorbatschow-Gipfel in Moskau 1988; vor acht US-Präsidenten, Königen, Staatsoberhäuptern - und Papst Johannes Paul II. "Es würde den Bruchteil eines Bomberflügels kosten", sagte er einmal, "Jazzmusiker durch die Welt fliegen zu lassen. Durch den Jazz können wir unsere Kultur der Freiheit zu den Leuten bringen. Das ist es, was Diktatoren immer zuerst stoppen: Jazzmusik im Radio oder die Möglichkeit, Jazzplatten zu kaufen. Denn dafür braucht es Freiheit."



Freiheit faszinierte ihn, Rassengleichheit - und die Religion: Aufgrund seiner tiefen spirituellen Überzeugungen hat Brubeck, vor allem seit den 70er Jahren, viel geistliche Musik komponiert - doch nur das wenigste davon ist durch Aufnahmen zugänglich. Während des Krieges plante er eine Komposition über die Zehn Gebote, vor allem das Gebot "Du sollst nicht töten". Seine bekannteste religiöse Komposition ist die Messe "To Hope - A Celebration".



Seine Musik hat immer viel mit dem Menschen Dave Brubeck zu tun. In den Stunden vor einer Herzoperation schrieb er im Krankenhaus das Stück "Joy in the Morning" (Freude am Morgen), in dem er anhand eines Psalmtextes musikalisch über seine Zuversicht angesichts seines möglichen Todes nachdenkt. Es beginnt mit seinem arhythmischen Herzschlag und seiner Unruhe vor der OP, geht dann über in einen neuen freudigen Herzschlag im Leben nach dem Eingriff. Das Herz von Dave Brubeck schlägt bis heute - vorzüglich dann, wenn er auf der Bühne steht.