Jahrestag des Armenien-Genozids: Warum die Türkei noch immer nicht zu dem Völkermord steht - Gesellschaft für bedrohte Völker im domradio

"Folgen für die Gegenwart"

Tausende Armenier haben am Mittwoch von der Türkei eine Anerkennung der Armenier-Massakers im Ersten Weltkrieg als Völkermord gefordert. Anlass ist der 93. Jahrestag des Genozids heute. Warum sich die Türkei so schwer tut, diesen Teil ihrer Geschichte zu akzeptieren, erklärt im domradio-Interview Dr. Kamal Sido, Nahostreferent bei der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen.

 (DR)

domradio: Warum gibt es in der Türkei immer noch viel Widerstand gegen den Begriff Völkermord?

Dr. Kamal Sido: Es gibt meiner Meinung nach zwei wichtige Gründe: ein psychologischer und ein einfacher politischer, pragmatischer Grund. Der psychologische Grund hängt mit der Geschichte der türkischen Republik zusammen. Die Republik Türkei ist auf Massakern gegen andere Nicht-Türken und Nicht-Muslime in der Türkei aufgebaut. Hätte die Türkei diese Massaker anerkannt, müsste die ganze Geschichte der Türkischen Republik neu bewertet werden. Diese Republik haben Generäle, Beamte, Minister gegründet und diese waren Offiziere in der türkisch-osmanischen Armee, die direkt an Massakern beteiligt waren. Also ist diese Republik von Verbrechern gegründet worden.

domradio: Die Türkei will in die Europäische Union - setzt sich die EU genug für die Aufarbeitung der Geschehnisse von 1915 ein oder ist sie Ihrer Meinung nach zu nachsichtig?

Dr. Kamal Sido: Wir meinen nicht. Eine Anerkennung und Aufarbeitung der Geschichte hat auch Folgen für die Gegenwart. In die Gegenwart steht die Türkei für die Politik der Verfolgung, Vernichtung, Untersuchung. Heute geht man weiter gegen den Rest der Armenier, Griechen, Syren, Kurden etc. vor und deswegen - und das ist der Grund, warum die Türkei nicht anerkennen will - muss die EU auf eine Anerkennung drängen, damit sich auch die Situation heute verbessert.

domradio: Nach wie vor gibt es Armenier in der Türkei, die sich aber oft genug unterdrückt fühlen. Der armenische Journalist Dink ist vor knapp anderthalb Jahren von einem türkischen Nationalisten erschossen worden - wie leben die Armenier in dem Land?

Dr. Kamal Sido: Die Armenier in der Türkei sind aus ihren Siedlungsgebieten im Osten und Nord-Osten der Türkei vertrieben worden. Sie können nur in Millionenstädten wie Istanbul leben und deshalb sind fast alle 65.000 Armenier in dieser Stadt verloren oder verschwunden. Sie leben ganz normal und tauchen nicht als Armenier auf. Und wenn sich jemand wie z.B. Dink zeigt und dann noch die Leidensgeschichte der Armenier erzählt, wird er ermordet.

domradio: Nicht nur in der Türkei, auch in anderen Ländern im Nahen Osten leben Armenier als Minderheit. Welche Rechte haben sie?

Dr. Kamal Sido: Die Armenier, die sich vor dem Massaker retten konnten, leben in Nachbarstaaten, also den Nachfolger-Staaten des osmanischen Reiches, in den Provinzen wie Syrien, Irak, Libanon, Ägypten usw. In Syrien haben die Armenier ihre Schulen, ihre Kirchen. Es ist überhaupt kein Problem, obwohl Syrien eine Diktatur ist. Im Irak, in diesem Chaos des Krieges, fliehen Armenier aus Bagdad oder Basra und kommen in den Norden auf die andere Seite der türkischen Grenze und bauen dort Kirchen und Schulen. Aber genau diese Dörfer werden wieder bedroht von der türkischen Armee und die Erinnerungen werden wieder bei den Armeniern wach.
Hintergrund:
Armenien beschuldigt das Osmanische Reich als «Vorläufer-Gebilde» der Türkei, zwischen 1915 und 1917 eineinhalb Millionen Armenier bei Vertreibungen ermordet zu haben. Die türkische Seite spricht hingegen von 300'000 armenischen Todesopfern bei Deportationen im Krieg und lehnt die Einstufung als Völkermord ab.