Integration ukrainischer Mitschüler in den Schulalltag

"Unfassbar, wie empathisch die Kinder miteinander umgehen"

Ein paar Monate sind sie nun "mitgelaufen", obwohl sie zunächst kein Wort Deutsch konnten. Inzwischen sind ukrainische Schüler wesentlicher Bestandteil der Klassen. Eine katholische Grundschule macht vor, wie das geht.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Die Kinder lieben es, im Religionsunterricht ihre Gefühle mithilfe von Smilys auszudrücken / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Kinder lieben es, im Religionsunterricht ihre Gefühle mithilfe von Smilys auszudrücken / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Mathilda muss nicht lange überlegen. Sie entscheidet sich für das gelbe Smily, das ein breites Lachen zeigt und für "glücklich" steht. "Weil ich heute Besuch von meiner besten Freundin bekomme und weil ich ein tolles Zeugnis habe", begründet sie ihre Wahl. Angelina legt einen Stein zu dem grünen Smily, auf dem "müde" steht. "Ich musste heute so früh aufstehen", klagt die Sechsjährige.

Luna ist wütend, weil ihre große Schwester sie oft ärgert, und schiebt ihren Stein zu dem roten Smily. Nico dagegen ist glücklich, weil er ein Lego-Schiff zusammengebaut hat, das nun auch richtig schwimmen kann, und Franca, weil sie im "Detektivheft", einem Übungsheft für Deutsch, bereits bei Seite 100 ist und Mama ihr für diesen Fleiß eine Belohnung in Aussicht gestellt hat.

Beim Leisewächter-Spiel müssen alle mucksmäuschenstill sein und das kleine Klangherz geräuschlos weitergeben / © Beatrice Tomasetti (DR)
Beim Leisewächter-Spiel müssen alle mucksmäuschenstill sein und das kleine Klangherz geräuschlos weitergeben / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Aber noch sehr viel mehr bunte Smilys liegen auf dem Tisch in der Mitte des Klassenraums aus – auch welche mit herunter gezogenen Mundwinkeln. Es ist die letzte Religionsstunde vor den großen Ferien für die "Rabenklasse", einer jahrgangsgemischten Gruppe aus Erst- und Zweitklässlern, und die Kinder sollen noch einmal dazu animiert werden, über das zu sprechen, was sie angesichts der sechs Wochen schulfrei gerade beschäftigt.

Bei Amedeo ist das der bevorstehende Italien-Urlaub, für Lewin der verabredete Spielnachmittag mit Freund Oskar und für Hannah, dass die Väter von Polina und Anastasia, den zwei neuen Mitschülerinnen aus der Ukraine, in der Heimat bleiben mussten, wo sie kämpfen und das Land gegen den Angriff der Russen verteidigen.

Daher hat sie sich auch für die "Traurig-Karte" entschieden, weil ihr das für die beiden weh tut, wie sie hinterher schiebt, "dass sie ihren Papa nun schon so lange nicht mehr gesehen haben". Auch Luna zeigt Mitgefühl. Sie wünscht ihnen, dass sie schon bald wieder in die Ukraine zurück können, weil sie dort ein Haus haben und ihre Freunde vermissen.

Ukrainischen Schülern sind Lern-Paten zugeteilt

Mathilda, die seit zehn Wochen Anastasias Lern-Patin ist, nimmt ihre Sitznachbarin im Stuhlkreis liebevoll in den Arm und versucht, ihr die Wünsche der anderen in der Klasse mit einfachen Sätzen verständlich zu machen. "Immer wenn sie etwas nicht weiß, helfe ich ihr", erklärt sie und spricht leise auf die Siebenjährige mit dem blonden Pferdeschwanz ein. Anastasia nickt und lacht etwas schüchtern.

Mathilda entscheidet sich für das Glücklich-Smily / © Beatrice Tomasetti (DR)
Mathilda entscheidet sich für das Glücklich-Smily / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Auch Angelina hatte sich gleich bei der Ankunft der ukrainischen Mädchen für die Rolle der Patin gemeldet. Sie kommt gebürtig aus der Ukraine und kann den einen oder anderen Satz auch schon mal übersetzen. Vielleicht nicht so perfekt wie die App, die Klassenlehrerin Anja Wagener-Pötters oft einsetzt, aber über Polinas Gesicht huscht jedes Mal ein kaum merkliches Lächeln, mit dem sie signalisiert, dass sie etwas verstanden hat. "Mir geht es gut", beteiligt sich das kleine Mädchen an dem Spiel und legt seinen Stein ebenfalls zu dem Glücklich-Smily.

Mathilda, 7 Jahre

"Der Smily-Kreis ist dafür da, dass die Lehrer wissen, wie es uns geht"

Auch wenn auf der Gefühlsskala außerdem noch "verzweifelt", "zufrieden" und "enttäuscht" zur Wahl stehen, an diesem Morgen macht "glücklich" das Rennen. "Der Smily-Kreis ist dafür da, dass die Lehrer wissen, wie es uns geht", erläutert Mathilda. "Und für mich ist das eine gute Gelegenheit, die Kinder in ihrer jeweiligen Stimmung wahrzunehmen", erklärt ihrerseits Wagener-Pötters. "Das erleichtert mir zu verstehen, in welcher Situation sie sich gerade befinden, was sie belastet oder ihnen Freude macht. Dementsprechend kann ich darauf eingehen. Außerdem erschließen sich die Kinder über die Beschreibung ihrer Empfindungen einen Zugang zu den eigenen Gefühlen."

Polina und Anastasia gehören zu den zwölf Kindern aus der Ukraine, die seit dem 4. April die Katholische Grundschule Eichelstraße in Bensberg besuchen. Schon nach wenigen Wochen waren sie aus der Klassengemeinschaft nicht mehr wegzudenken und nun – zu Ferienbeginn – hoffen alle, dass es auch am ersten Schultag im August ein Wiedersehen gibt. Doch das ist noch nicht ganz klar. Wagener-Pötters weiß, dass die Mütter dieser Mädchen kaum erwarten können, nach Hause zurückzukehren – in ihr altes Leben.

Kinder aus der Ukraine sind Bereicherung für die Klasse

In diesem Moment aber sind Polina und Anastasia erst einmal aufgefordert, einen Einblick in ihr Gefühlsleben zu geben. Dabei geht die Lehrerin äußerst sensibel vor, weil sie im Letzten nicht weiß, was die Kinder bisher vom Krieg mitbekommen haben und welches Trauma ihre kleinen Seelen verarbeiten müssen. Andererseits betrachtet die Pädagogin die beiden als "total integriert und eine Bereicherung" für die Klasse.

Natürlich sei das eine Entwicklung gewesen, aber von Anfang an hätten sich alle über den Neuzugang gefreut und den Mädchen ein herzliches Willkommen mit gemalten Friedenstauben und einer sorgfältig auf Russisch eingeübten Begrüßung bereitet, erzählt sie. Während die Schulleitung mit dem Kollegium überlegt habe, wie man die Kinder, Mütter und zum Teil sogar Großmütter am sinnvollsten informiert und in die Abläufe an einer deutschen Grundschule einführt.

Lehrpersonal schafft eine Vielzahl an Unterstützungsangeboten

"Für uns war das selbstverständlich, als die ersten Anfragen vom Kommunalen Integrationszentrum kamen, auch wenn das zu allem, was so in der zweiten Schuljahrhälfte bei uns ohnehin schon läuft, noch on top kam", sagt Schulleiterin Elvira Damm-Linke. Eine solche Zuweisung erfolge in Absprache mit der Schulaufsicht. Zuvor würden die Kapazitäten der jeweiligen Schule abgefragt, dabei liege der Richtwert bei 30 Kindern pro Klasse. "Aber wir wollten es eben auch unbedingt möglich machen."

Schnell war geklärt, dass die Schüler aus der Ukraine keine eigene feste Klasse bilden sollten, sondern man das Experiment wagen wollte, sie in ihrer jeweiligen Altersstufe mitlaufen zu lassen – trotz Sprachbarriere. Schließlich konnte keines der Kinder auch nur ein Wort Deutsch. Unter Damm-Linkes Leitung schafft das Lehrpersonal umgehend eine Vielzahl an Unterstützungsangeboten, die vor allem die sprachliche Verständigung betreffen.

Simone Kapitein, Elvira Damm-Linke und Anja Wagener-Pötters haben sich sehr um die Integration ihrer ukrainischen Schüler bemüht / © Beatrice Tomasetti (DR)
Simone Kapitein, Elvira Damm-Linke und Anja Wagener-Pötters haben sich sehr um die Integration ihrer ukrainischen Schüler bemüht / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die Schulleiterin, ihre Stellvertreterin Wagener-Pötters und Simone Kapitein, Klassenlehrerin der 4b, recherchieren im Internet nach Sprachförderprogrammen und werden fündig: Digitale Lernplattformen wie "digiclass" vermitteln spielerisch erste Schritte beim Erwerb von Deutschkenntnissen, andere unterstützen mit ansprechenden bunten Bildern das Vokabeltraining.

Elvira Damm-Linke, Schulleiterin KGS Bensberg

"Vier bis fünf Unterrichtsstunden täglich – das war nicht üppig, sorgte aber rasch für eine unverzichtbare Struktur ihres Alltags und damit auch für ein Stück Normalität"

Aus den Unmengen an kindgerechtem Unterrichtsmaterial treffen sie eine geeignete Auswahl. Den Müttern der ukrainischen Schülerinnen und Schülern werden notwendige Informationen und QR-Codes mitgegeben, über die diverse Programme abrufbar sind. Aber auch darüber hinaus stellen die Lehrerinnen viele Hilfen zusammen, um eine intensive Grundförderung zu gewährleisten.

"Wir hatten nur eine halbe Stelle für den Deutsch-Sprachunterricht und mussten dafür den Stundenplan komplett umbauen: vier Stunden für die Großen und vier Stunden für die Kleinen pro Woche", sagt Damm-Linke, "so dass die Kinder aus den ukrainischen Familien am Anfang mit den anderen Fächern auf vier bis fünf Unterrichtsstunden täglich kamen. Das war nicht üppig, sorgte aber rasch für eine unverzichtbare Struktur ihres Alltags und damit auch für ein Stück Normalität."

Wenn Anastasia nicht weiter weiß, hilft die Sprachapp bei der Verständigung / © Beatrice Tomasetti (DR)
Wenn Anastasia nicht weiter weiß, hilft die Sprachapp bei der Verständigung / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Auf insgesamt fünf Klassen wurden je bis zu drei Kinder verteilt. "Wichtig dabei war uns vor allem", betont Damm-Linke, "dass die Mütter sehen konnten, wo ihre Kinder untergebracht sind und in welchen Räumen sie lernen, um durch den Krieg ausgelöste Trennungsängste abbauen zu können." Echte Gespräche seien ja kaum möglich gewesen – und wenn, dann meist nur über Übersetzungsapps.

Die wenigsten könnten Englisch. "Das hat es nicht gerade einfach gemacht. Für den Start musste zunächst ein ‚Erste-Hilfe-Wortschatz’ her: einfache Worte und einprägsame Satzbausteine wie ‚Mir geht es gut’, oder ‚Jetzt ist Pause’, die im Schulalltag, aber auch in der Freizeit gebraucht werden und zudem die Möglichkeit eröffnen, Gefühle ausdrücken zu können – was nach Tagen und Wochen der Flucht wichtig ist. Außerdem hat ja fast jedes dieser Kinder seinen Vater, Onkel oder Großvater in der Ukraine zurückgelassen."

Simone Kapitein, Lehrerin

"Es gab gleich zu Beginn eine extrem große Hilfsbereitschaft seitens der Klasse. Die Erfahrung von Gemeinschaft hat viele Ängste genommen"

Zunächst hätten die Kinder an ihren Müttern geradezu geklebt, schildert Simone Kapitein ihre Beobachtungen. Die Zuteilung einer Patin bzw. eines Paten habe das Eis jedoch schnell gebrochen. "Bald konnten wir feststellen, dass die Kinder fernab ihres Kriegsalltags begeisterungsfähig und auch wissbegierig waren, sich schnell der neuen Situation angepasst haben, traurige Erfahrungen aus der Vergangenheit auch mal ausblenden konnten und mit großer Freude in die Schule gekommen sind." Dabei sei sicher förderlich gewesen, Gleichaltrige zusammenzutun, "damit die sich schon mal haben", begründet Kapitein.

Hannah weiß, dass ihre ukrainischen Mitschülerinnen unter der Trennung von ihrem Vater leiden, und zeigt Mitgefühl / © Beatrice Tomasetti (DR)
Hannah weiß, dass ihre ukrainischen Mitschülerinnen unter der Trennung von ihrem Vater leiden, und zeigt Mitgefühl / © Beatrice Tomasetti ( DR )

"Es gab gleich zu Beginn eine extrem große Hilfsbereitschaft seitens der Klasse. Die ukrainischen Schüler konnten Vertrauen fassen und haben erlebt: Ich bin nicht allein, wenn es mir schlecht geht. Die Erfahrung von Gemeinschaft hat viele Ängste genommen." Zuvor hatte die 53-Jährige das Thema "Krieg in der Ukraine" im Sachunterricht aufgegriffen, es unter anderem zum Stoff einer "Aktuellen Stunde" gemacht, die eigens für einen Austausch reserviert ist, zu der die Neun-Jährigen und Zehnjährigen selbst inhaltliche Anregungen mitbringen dürfen, wenn sie etwas bedrückt. Zum Beispiel Zeitungsartikel über den Krieg."

Anja Wagener-Pötters, stellvertretende Schulleiterin

"Es ist wunderbar zu sehen, wie sie von ihren Mitschülern einbezogen werden, niemand am Rand stehen bleibt"

"In den letzten Wochen haben wir viel über das gesprochen, was gerade in der Welt geschieht. Am Anfang war der Krieg noch sehr präsent, gegen Ende des Schuljahrs dann aber zunehmend weniger, weil sich die Kinder gegenseitig ablenken konnten", berichtet Wagener-Pötters mit Blick auf ihre Klasse, in der die Kinder noch weitaus jünger sind. "Ich finde großartig, wie selbstverständlich das Miteinander zwischen den deutschen Kindern und ihren ukrainischen Mitschülern funktioniert hat, wie rücksichtsvoll sie auf Polina und Anastasia zugehen und ihre eigene Sprache miteinander finden. Unfassbar, wie empathisch sie miteinander umgehen."

Aber gerade dafür seien eben auch diese Stuhlkreisgespräche und ein regelmäßiger Austausch über das wichtig, was den Einzelnen gerade bewegt. "Wir tun alles, damit unsere ukrainischen Kinder einen unbeschwerten Schulalltag erleben. Denn darum geht es am Ende: dass Schule seelengestaltend und menschenbildend ist. Kinder müssen im Gleichgewicht sein, um überhaupt lernen zu können." Das Wichtigste sei, dass sie hier ankommen würden, Geborgenheit und Frieden erlebten. In Fächern wie Sport, Kunst und Musik laufe Integration fast wie von selbst. Da gehe es ja mehr ums Abgucken. "Hier braucht es nicht viele Worte, die Kinder können sofort mitmachen." 

Inzwischen seien Polina und Anastasia wie auch die anderen ukrainischen Kinder Agata, Salim oder Kira mittendrin und fester Bestandteil dieser Schule, stellt Wagener-Pötters erleichtert fest. "Es ist wunderbar zu sehen, wie sie von ihren Mitschülern einbezogen werden, niemand am Rand stehen bleibt, auch wenn er schon mal keinen guten Tag hat und sichtlich bekümmert ist."

Beatrice Tomasetti (DR)

Quelle:
DR