Historiker und Hitler-Experte Ian Kershaw wird 80

Putin als rückwärts gewandter Ideologe

Die Literatur zum Nationalsozialismus füllt Bibliotheken. Selbst Fachleuten fällt der Überblick schwer. Ein britischer Historiker gilt als einer der besten Kenner. An diesem Samstag wird Ian Kershaw 80 Jahre alt.

Autor/in:
Christoph Arens
Historiker und Autor Ian Kershaw / © Henning Kaiser (dpa)
Historiker und Autor Ian Kershaw / © Henning Kaiser ( dpa )

Er ist ein gefragter Interviewpartner in Zeiten des Kriegs in der Ukraine. Der britische Historiker Ian Kershaw kennt sich aus mit den Katastrophen Europas im 20. Jahrhundert.

In seinem jüngsten Buch "Der Mensch und die Macht" hat er analysiert, wie weit die machtvollen Figuren des 20. Jahrhunderts von Lenin bis Hitler und von Helmut Kohl bis Gorbatschow Geschichte bewegt haben oder von historischen Strukturen getrieben wurden.

Am 29. April wird der Historiker, den Queen Elizabeth 2002 zum Ritter schlug und der als einer der besten Kenner Hitlers und des Nationalsozialismus gilt, 80 Jahre alt.

Ursprünglich studierte und lehrte Kershaw in Liverpool, Oxford und Manchester mittelalterliche Geschichte. Doch dann faszinierten ihn die deutsche Sprache, Kultur und Geschichte so sehr, dass er umsattelte.

Einst Gastprofessor in Bochum

Der 1943 in Oldham geborene Historiker gilt als meisterhafter Erzähler und akribischer Arbeiter. Kershaw spricht fließend Deutsch; das lernte er nebenbei am Goethe-Institut von Manchester. 1983/84 hatte er eine Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum. 1987 nahm er eine Professur für moderne Geschichte an der Universität Nottingham an. Zwei Jahre später wechselte er an die Uni Sheffield, an der er bis zu seiner Emeritierung 2008 lehrte.

Wie konnten die Deutschen einem rassistischen Tunichtgut und Postkartenmaler verfallen? Wie konnte der Holocaust in diesem kultivierten Land geschehen, und warum hielten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg so lange durch? Das waren die Fragen, die Kershaw bewegten.

Beschäftigung mit NS-Vergangenheit

Sein erstes Buch über deutsche Geschichte befasste sich 1980 mit "Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich". In "Der NS-Staat" gab er 1988 einen Überblick über Strukturen der NS-Gesellschaft und Kontroversen.

Auch mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Kriegsgesellschaft setzte er sich auseinander, etwa in den Büchern "Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg" (2008) und "Kampf bis in den Untergang" (2011). Seine zweibändige Hitler-Biografie, erschienen 1998 und 2000, wird als Standardwerk gerühmt.

Im Streit über die Bedeutung Adolf Hitlers gibt Kershaw beiden Interpretationsschulen ein wenig Recht. Sehen die "Intentionalisten" im Diktator Hitler den entscheidenden Motor der NS-Verbrechen, so begründen die "Funktionalisten" die wachsende Radikalisierung damit, dass die unteren Ebenen versuchten, in einem Wettlauf den "Führerwillen" im vorauseilenden Gehorsam zu erfüllen.

Rolle Hitlers in der Geschichte

Kershaws salomonisches Ergebnis: Einerseits betrachtet er Hitler als Ausnahmeerscheinung. Ohne ihn kein SS-Staat, kein Weltkrieg und kein Holocaust. Andererseits sei Hitler aber nur Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte gewesen, weil die Deutschen ihren Wunsch nach einem starken Führer auf seine Person übertragen hätten.

Doch die Perspektiven des Historikers gehen über den Nationalsozialismus hinaus. In seinem fulminanten Buch "Höllensturz" - laut Kershaw sein schwierigstes Werk - beschreibt er die Entwicklung Europas vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum beginnenden Kalten Krieg Ende der 40er Jahre.

Als wesentliche Triebkräfte sieht er die explosionsartige Ausbreitung des rassistischen Nationalismus, Gebietsstreitigkeiten zwischen den Nationalstaaten und die lange andauernde Krise des Kapitalismus seit den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts.

Wendepunkt Ukraine-Krieg

Als einen Wendepunkt der Geschichte beurteilt Kershaw den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine. "Der Versuch, Russland in die Familie der Nationen zu integrieren, ist auf lange Sicht beendet", sagt er. "In dem Sinne war die Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, eine teure Entscheidung."

Der Historiker sieht Putin als stark rückwärtsgewandten Ideologen. "Er orientiert sich an Peter dem Großen und Katharina der Großen, nicht an Lenin und Stalin."

Der Kreml-Herrscher inszeniere Russland als Großmacht, die westliche Einmischungen in ihre Einflusssphäre blockieren will. Russland nach dem Untergang der Sowjetunion sei eine gedemütigte Großmacht - was eine sehr gefährliche Sache sei. "Auch im Deutschland der 1920er-Jahre herrschte das Gefühl einer nationalen Demütigung, was Hitlers Aufstieg begünstigte."

Quelle:
KNA
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