Politikwissenschaftler zu den Folgen des Brexits

"Gut möglich, dass sich das ganze Drama nächsten Winter wiederholt"

Es ist der erste Ausstieg eines Landes aus der Europäischen Union: Nach mehreren Anläufen und Unverständnis in Europa verlässt Großbritannien die EU. Für den Politikwissenschaftler Stefan Schieren ein Vorgang mit jeder Menge Sprengstoff.

Wie es in Sachen Brexit weitergeht, ist unklar / © Matt Gibson (shutterstock)
Wie es in Sachen Brexit weitergeht, ist unklar / © Matt Gibson ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: An diesem Freitag um 24 Uhr verlässt Großbritannien die Europäische Union. Dann gibt es bis voraussichtlich Ende des Jahres eine Übergangsphase. Was heißt das?

Prof. Stefan Schieren (Politikwissenschaftler an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt): Das heißt erstmal, dass die nächsten Monate die Regeln des Binnenmarktes und der Zollunion in Großbritannien weiter gelten. Großbritannien ist mehr oder weniger weiterhin Mitglied und muss sich an die Regeln des Binnenmarkts halten. Es ist aber nicht mehr in den Institutionen vertreten, sondern nur noch "Rule-taker" wie es so schön heißt. Es muss also die EU-Regeln befolgen, ohne sich an den Regeln beteiligen zu können.

Aber das ist eine ausdrückliche Übergangsphase, um einen weicheren Übergang in die Zeit zu finden, in der Großbritannien sich nicht mehr an diese Regeln halten wird. Und um ein Handelsabkommen zu finden, so wie es die EU mit 40 anderen Ländern geschlossen hat.

DOMRADIO.DE: Besteht denn zum Ende dieser Übergangszeit die Gefahr, dass sich Großbritannien und die EU über Handelsfragen immer noch nicht einig sind? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexits?

Schieren: Ich halte diese Möglichkeit für sehr stark gegeben, weil die Vorstellungen sehr unterschiedlich sind. Eine Lösung wäre natürlich, dass Großbritannien sich weiterhin - ähnlich wie Norwegen - an mehr oder weniger alle Regeln hält. Das möchte es aber nicht. Großbritannien möchte letztendlich einen freien Zugang zum Markt haben, vor allen Dingen für Dienstleistungsprodukte. Es möchte eher ein "Cherry Picking", ein Rosinenpicken. Das wiederum will die EU nicht, das kann sie auch nicht akzeptieren.

Diese Positionen gehen doch relativ weit auseinander, sodass ich es für schwierig erachte, sich innerhalb von weniger als elf Monaten zu einigen. Es muss ja im Oktober alles fertig sein, weil die Ratifizierung im Europäischen Parlament, im Rat usw. auch noch stattfinden müssen. Das heißt, wir haben eigentlich nur ein gutes halbes Jahr. Einfachere Handelsverträge wie zum Beispiel mit Kanada haben sieben Jahre gebraucht. Es ist schon sehr, sehr gut möglich, dass sich das ganze Drama im nächsten Winter wiederholt.

DOMRADIO.DE: Die britische Wirtschaft hat seit der Brexit-Entscheidung 150 Milliarden Euro verloren. Gut ausgebildete Leute haben das Land verlassen. Großbritannien wird sich vermutlich neue Handelspartner suchen wie die USA?

Schieren: Ja, das ist ein ganz starkes Ziel. Man möchte parallel zu den Verhandlungen mit der EU auch mit den USA verhandeln. Und auch hier ist ja die Ankündigung gewesen: Das wird alles sehr schnell gehen. Man wird einen großartigen Handelsvertrag schließen können. Aber die Folgen des Austritts sind schon jetzt zu spüren. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Amerikaner sehr genau wissen, dass sie in einer sehr starken Position sind und dann Forderungen in den Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen stellen werden, die den Briten nicht gefallen können. Zum Beispiel was Lebensmittel, Importe und Exporte angeht, vor allen Dingen aber die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen.

Die Amerikaner haben ein großes Interesse daran, in den sehr lukrativen britischen Gesundheitsmarkt einzusteigen, und dieses bisher fast ausschließlich staatliche System könnte privatisiert werden. Damit würde allerdings eine heilige Kuh des britischen Sozialstaats, der National Health Service, geschlachtet werden müssen. Ob man dazu bereit ist, wird man sehen. Aber es wird auf jeden Fall die Verhandlungen nicht einfacher machen.

Insofern sehe ich auch hier keine Aussicht auf eine schnelle Einigung. Und wenn, dann zu einem Preis, der höher sein wird als sich viele, die den Brexit befürwortet haben, vorstellen konnten.

DOMRADIO.DE: Zu Großbritannien gehört neben England auch Schottland, Wales, Nordirland. Auch diese verlassen die Europäische Union. Zwar würde die schottische Regierungschefin gerne unabhängig werden und dazu eine Volksabstimmung durchführen, doch Boris Johnson lehnt das mit dem Argument ab, die Schotten hätten erst kürzlich darüber abgestimmt und sich gegen die Eigenständigkeit entschieden. Kann das innenpolitisch noch gefährlich werden? 

Schieren: Es ist auf jeden Fall ein ständiger Unruheherd. Da die Labour Partei sich zurzeit erstmal finden und eine Strategie finden muss, wie sie sich denn wieder auf die Beine stellt, ist die schottische Regierung tatsächlich die einzig erkennbare und wahrnehmbare starke Opposition zu der starken Vormacht und Übermacht der Konservativen in London. Und da wird man sicherlich politisch das Spiel sehr stark spielen können.

Rechtlich sitzen die Londoner ganz klar am längeren Hebel. Ohne eine Zustimmung Londons kann keine rechtmäßige Volksabstimmung stattfinden. Das Argument, man habe doch erst vor einigen Jahren darüber abgestimmt und selbst gesagt, die Abstimmung entscheide für eine Generation, der Volkswille stehe fest, ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Auf der anderen Seite hat der Brexit das Spiel auch in sehr starker Weise verändert, sodass die schottische Regierung für sich in Anspruch nehmen kann, 2014 über etwas ganz anderes abgestimmt zu haben als über das jetzt abgestimmt wurde. Insofern liegt darin sehr viel politischer Sprengstoff.

Meine Prognose ist, dass die Schotten bei aller Verärgerung die Kröten schlucken werden. Es wird nach meiner Ansicht nicht zu einer katalonischen Situation kommen, dass man eine Volksabstimmung gegen die rechtlichen und verfassungsrechtlichen Regeln durchführen wird. Man wird sich an das Recht halten, die Unruhe wird bleiben. Aber ich sehe zurzeit nicht, dass eine Abspaltung in der näheren Zukunft bevorsteht.

DOMRADIO.DE: Lassen Sie uns noch ganz kurz auf einen anderen Effekt schauen, der mit dem Brexit kommt. Die EU wird mit dem Ausscheiden Großbritanniens und seinen anglikanischen Christen insgesamt katholischer - prozentual gesehen. Statt 54 Prozent gibt es dann 60 Prozent Katholiken in der Europäischen Union. Könnte das auf ethische Entscheidungen im Europäischen Parlament Einfluss nehmen?

Schieren: Ich denke nicht, weil nach meiner Beobachtung die Kirchen gegenüber Brüssel immer sehr versucht haben, einheitlich zu handeln. Der europäische Vertrag ist ja auch sehr sparsam mit einer Bezugnahme auf die Kirchen. Der Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union garantiert den Kirchen, dass sie ihre institutionelle Unabhängigkeit wahren können. 

Meine Beobachtung ist, dass die Kirchen immer versucht haben, eine weitestgehend abgestimmte Auffassung gegenüber Brüssel zu formulieren. Inwieweit sich jetzt etwas in Nuancen oder auch über Nuancen hinaus in der Ausrichtung ändern wird, muss man abwarten. Aber ich sehe hier kein Potenzial für grundlegende und nach außen sichtbare Änderungen. 

Das Gespräch führte Tobias Fricke. 


Quelle:
DR
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