Gerhart Baum bedauert nachlassende Bindung an Kirchen

"Man nimmt das einfach als gegeben hin"

Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum schaut mit Sorge auf die Demokratie in Deutschland. Auch die Bindung an die Kirchen sieht der 91-Jährige schwinden. Dabei setzt er mit Blick auf die Zukunft besonders auf sie.

Gerhart Baum / © Bernd von Jutrczenka (dpa)
Gerhart Baum / © Bernd von Jutrczenka ( dpa )

DOMRADIO.DE: Warum ist unsere Demokratie Ihrer Ansicht nach stark gefährdet? 

Gerhart Baum (Früherer FDP-Bundesinnenminister von 1978-1982): Wir sind einer massiven Gefahr des Rechtsextremismus ausgesetzt. Er zeigt sich in den Umfragezahlen für die AfD, die stärker sind als die Umfragewerte von Grünen oder der SPD. Das ist nicht nur ein ostdeutsches, sondern es ist ein gesamtdeutsches Problem.

Denn die AfD liegt nach den Umfragen auch im Westen bei 20 Prozent. Diese Partei möchte die Freiheitsordnung, die wir aufgebaut haben, die wir gelebt haben, verändern. Sie möchte sie im Grunde abschaffen. Und Europa noch dazu.

Das habe ich so intensiv in meinem Leben noch nicht erlebt. Übrigens auch nicht diese Woge von Antisemitismus. 

DOMRADIO.DE: Was macht denn die Unzufriedenheit vieler AfD-Protestwähler aus? Ist es nicht auch eine übergroße Erwartungshaltung, die eine Regierung gar nicht erfüllen kann? 

Gerhart Baum

"Diese "Rattenfänger" gibt es auch von der anderen Seite."

Baum: Das ist so. Es ist natürlich auch ein Stück Verantwortung der Politik, die jetzt gefragt ist. Die Politik muss die Menschen mitnehmen, muss auf sie zugehen, muss ihre Sorgen, ihre Ängste wahrnehmen und muss den Menschen vor allen Dingen die Wahrheit sagen. 

Diese "Rattenfänger", die es es auch auf der anderen Seite bei Frau Wagenknecht gibt, tun ja so, als könnten sie die Probleme einfach lösen. Aber sie bündeln eigentlich nur den Protest, weiter nichts. Sie tragen nicht dazu bei, dass wir in ganz schwierigen Fragen, weltweiten Krisen, die uns alle erreicht haben, zu Lösungen kommen. 

Das bedeutet, dass es hier auch einen Auftrag an die Politik gibt: Erstens auf die Gefahren aufmerksam zu machen, was auch nicht genügend geschieht, und zweitens den Menschen zum Beispiel zu sagen, dass es wahnsinnig schwierig ist, Leute ohne Aufenthaltsstatus abzuschieben.

Da kann man den Menschen nicht sagen, das sei alles nur ein Versäumnis. Vieles ist eben sehr viel schwerer zu realisieren, als viele Menschen das meinen. 

DOMRADIO.DE: Könnte die Krise der Demokratie auch etwas damit zu tun haben, dass Bindungskräfte von Institutionen immer mehr schwinden? 

Baum: Ja, das ist absolut richtig gesehen. Das betrifft beispielsweise die Kirchen und die Gewerkschaften. Das betrifft auch das Grundgesetz. Ich stelle fest und habe lange gezögert, das zu sagen, dass die Bindungswirkung oder sogar die Begeisterung, die wir einmal für das Grundgesetz, für die neue Demokratie hatten, nachlässt.

Man nimmt das einfach als gegeben hin und denkt, es geht einfach so weiter. Es geht überhaupt nicht so weiter. Auch mit den Menschenrechten nicht. Die werden verletzt und müssen immer wieder verteidigt werden. 

DOMRADIO.DE: Wie kann das geschehen? Sie haben an diesem Sonntag in der Antoniterkirche in Köln eine Kanzelrede gehalten. Können Kirchen auch Resonanzräume anbieten, um auf die Krisen aufmerksam zu machen? 

Gerhart Baum bei seiner Kanzelrede / © Johannes Schröer (DR)
Gerhart Baum bei seiner Kanzelrede / © Johannes Schröer ( DR )

Baum: Absolut. Die Kirchen sind werteorientiert, geben den Menschen Halt und sind auch Träger von Hoffnung. Hoffnung ist notwendig für den Mut, etwas zu verändern. 

Wir sind in einer Situation, wo sich unheimlich viel ändert und die Menschen spüren, dass da was passiert und dass irgendwo in der Ferne eine Zukunftsvision auftauchen muss. Wie werden wir künftig leben?

Die Zukunft muss neu gedacht werden. Da haben die Kirchen eine ganz wichtige Funktion, aus dem Glaubenselement heraus Hoffnung und Mut zu entwickeln, die Probleme zu lösen sowie das Leben, die eigenen Probleme und die Probleme der Gesellschaft in die Hand zu nehmen und nicht irgendwie in Mutlosigkeit und Passivität zu verfallen. Ich bin der Meinung, die Kirchen haben eine wichtige Funktion. 

DOMRADIO.DE: Fehlen uns alte religiöse Tugenden wie Demut, Dankbarkeit, Ehrfurcht und Respekt besonders, wenn man auf die sozialen Medien schaut? 

Baum: Ja, vollkommen. Es ist eine Verrohung der Kommunikation im Gange, die aus der Verborgenheit des Netzes herausquillt. Es ist ein Hass, eine Herabsetzung des Andersdenkenden. Das Internet hat eine verheerende Wirkung neben seiner ökonomischen Kraft, die es entfalten kann. Aber es ist auch menschenfeindlich. 

Gerhart Baum

"Ich kriege ich Mails, wo man mir gebündelt den Tod wünscht."

DOMRADIO.DE: Sie bekommen auch solche Hassbotschaften? 

Baum: Ja, ich bekomme solche Botschaften. Manchmal erschrecke ich einfach. Wenn ich wie hier in diesem Interview Position beziehe, kriege ich Mails, wo man mir gebündelt den Tod wünscht. Nach dem Motto: "Sie sind 91, hauen Sie endlich ab". Da schlucke ich einen Moment.

Aber so was wäre früher überhaupt nicht realisierbar gewesen. Bis die Leute früher einen Brief geschrieben hätten, hätte sich das verlaufen. Aber heute ist eine Sendung kaum zu Ende, in der ich das gesagt habe, da kommen schon die ersten Mails. 

DOMRADIO.DE: Woran liegt das? 

Baum: Die Leute sind in ihrem Blick verengt. Sie sind nicht konsensorientiert, sie sind nicht kompromissorientiert. Sie verweigern sich einer Aufklärung. Denken Sie an diese Demonstrationen während der Covid-Pandemie, mit der ganzen Impf-Diskussion? Als ob das eine unzumutbare Freiheitseinschränkung wäre, wenn wir uns schützen.

Diese ganzen Verschwörungstheorien wabern natürlich, begünstigt durch das Internet, tief in die Gesellschaft hinein. 

DOMRADIO.DE: Sie sind auf der einen Seite sehr pessimistisch und warnen, dass die Demokratie gefährdet ist. Aber was macht Ihnen Hoffnung? 

Baum: Hoffnung macht mir zum Beispiel mein eigenes Leben. Ich bin ein Kriegskind und stand fassungslos vor der moralischen Katastrophe nicht nur des verlorenen Krieges oder einer zerstörten Stadt. Ich habe zerstörte Städte, wie Dresden, meine Heimatstadt, gesehen. Ich habe die Angriffe überlebt. Ich kam nach Köln. Dort war es düster, kalt, zerstört. Wir haben die Kraft gehabt, das alles zu überwinden, nicht nur den wirtschaftlichen, ökonomischen Aufbau, sondern wir haben uns auch der Vergangenheit gestellt. 

Wir haben eine Erinnerungskultur entwickelt, die unsere Demokratie stärkt. Das macht mir Hoffnung. Wir haben Krisen und Schwierigkeiten in der Geschichte der Bundesrepublik überwunden. Wenn wir das jetzt richtig machen, haben wir Erfolg.

Aber dazu gehört, dass uns die Politik viel stärker in Richtung Zukunft und nicht nur auf die Gegenwart ausrichtet, also auf irgendwelche Probleme, die in Berlin die Ampel umtreiben. Die sind wichtig, aber das ist nicht allein unsere Zukunft. 

DOMRADIO.DE: Wir haben die Europawahl vor Augen. Es gibt sogar Leute, die sagen, es sei gar nicht mehr ausgeschlossen, dass die AfD stärkste Partei werden könnte. 

Gerhart Baum

"Der Europawahlkampf muss für Europa geführt werden und nicht gegen Europa."

Baum: Europa ist ein Stück unserer Identität. In unserem Grundgesetz steht in der Präambel: Die Deutschen sind verpflichtet, in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Das ist eine wunderbare Verpflichtung. Europa ist nach wie vor unsere Zukunft. Wir haben keine andere. 

Wir müssen verhüten, dass dieses Gift des Extremismus und der Verantwortungslosigkeit, in das Europa-Parlament einsickert, das ja im Grunde eine wunderbare Einrichtung ist. Es gibt auf der ganzen Welt nicht ein vergleichbares, frei gewähltes Parlament von 27 Staaten. Das muss bewahrt werden. Das heißt, der Europawahlkampf muss für Europa geführt werden und nicht gegen Europa. 

DOMRADIO.DE: Sie haben am Sonntag eine Kanzelrede gehalten, waren beim Gottesdienst dabei. Sie haben mal gesagt, Sie waren oft als Kind in der Frauenkirche in Dresden und haben sich da aber schrecklich gelangweilt. Wie war es denn dieses Mal? 

Baum: Das war schon ganz eindrucksvoll. Das ist eine Art des Gottesdienstes, den ich aus protestantischen Zeiten in meiner Jugend gar nicht kannte. Es war sehr viel "weihevoller". Es hat mich beeindruckt. Ich finde, wenn sich Menschen da treffen, ist das schon ein Stück wertvoller Gemeinschaft. 

DOMRADIO.DE: Und eine Beziehung zu Transzendenz?

Baum: Die habe ich auch, aber auf meine Weise. 

Das Interview führte Johannes Schröer.

Quelle:
DR