Einstiger DDR-Bürgerrechtler kämpft gegen Ungerechtigkeit

"Bis heute sind nicht alle Menschenrechte umgesetzt"

Immer war er in der ehemaligen DDR, aber auch noch nach der Wiedervereinigung für andere unbequem, weil er den Mut hatte, Unrecht anzuprangern und sich für die Würde des Menschen einzusetzen. Der Theologe Heiko Lietz erinnert sich.

Die Biografie von Heiko Lietz ist eng mit der Geschichte der Menschenrechte verwoben / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Biografie von Heiko Lietz ist eng mit der Geschichte der Menschenrechte verwoben / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Die Umsetzung der Menschenrechte ist zu Ihrem Lebensthema geworden. Was kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie darüber nachdenken, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 – also vor 75 Jahren – ihre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet hat? 

Heiko Lietz (Evangelischer Theologe, Bürgerrechtler in der ehemaligen DDR und Menschenrechtler im vereinigten Deutschland)Dass wir selbst nach siebeneinhalb Jahrzehnten in Deutschland noch weit davon entfernt sind, diese Menschenrechte vollständig umzusetzen. Viele Menschen erleben, dass der Staat sich nicht an diesen Katalog hält. 

Vielen droht Armut im Alter. Eine angemessene Wohnung ist für immer mehr Menschen kaum noch bezahlbar. Wir haben ein überfordertes Schulsystem mit maroden Schulen, zu wenig Lehrern und ungleichen Bildungschancen.

1998 erweiterte die UN-Generalversammlung noch einmal ihre Forderungen und verwies in einer Erklärung darauf hin, dass jeder Staat die Verantwortung und Pflicht hat, ausnahmslos alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu schützen, zu fördern und zu verwirklichen, damit die Menschen sie auch in ihrer Praxis genießen können.

DOMRADIO.DE: Dabei hatte doch eigentlich alles nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch von Nazi-Deutschland vielversprechend angefangen…

Lietz: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 beschreibt ein Ideal für alle Völker und Nationen und ist der Versuch einer Generalität von Werten. Ziel war, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln, internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel zu bereinigen und beizulegen und die Achtung vor den Menschenrechten zu fördern und zu festigen. 

Man kann sich diese Erklärung wie einen Fächer mit 30 einzelnen Lamellen vorstellen, von der je eine für einen Menschenrechtsartikel steht, wobei die Würde des Menschen – Artikel 1 – die Grundbedingung schlechthin für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden ist und sich in der Konkretion eines jeden dieser 30 Rechte entfaltet. 

Ich stamme aus Güstrow und habe als DDR-Bürger erlebt, dass man von der Wiege bis zur Bahre sozial abgesichert war. Es gab den gleichen Lohn für alle, bezahlbare Mieten, keine Arbeitslosigkeit, Bildungsgleichheit für alle bis zur 10. Klasse und besondere Unterstützung für kinderreiche Familien. Aber das allein reichte nicht.

Heiko Lietz

"Was die politischen und bürgerlichen Rechte wie das Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlung oder Religionsfreiheit betraf, die in den Menschenrechtsartikeln 1 bis 21 abgebildet werden und auch Bestandteil des Grundgesetzes waren, blieben viele Wünsche offen."

Die Menschenrechte wurden 1966 rechtsverbindlicher in zwei Pakte aufgeteilt, wobei Pakt 2 mit allen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten in der ehemaligen DDR relativ gut umgesetzt wurde. Was aber die politischen und bürgerlichen Rechte wie das Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlung oder Religionsfreiheit betraf, die in den Menschenrechtsartikeln 1 bis 21 abgebildet werden und auch Bestandteil des Grundgesetzes waren, blieben viele Wünsche offen. Schließlich bestimmte allein die Partei, was rechtswirksam war. 

Wie sich bereits unmittelbar nach der Verrechtlichung der Menschenrechte gezeigt hatte, favorisierten die Staaten der NATO stärker den Teil der Menschenrechte, der ihrer historischen Erfahrung und ihrem politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnis entsprach: die Artikel 1 bis 21. 

Die Staaten des Warschauer Paktes bevorzugten jedoch die Rechte, die aus den politischen und sozialen Kämpfen des 19. und 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten hervorgegangen waren: die Artikel 22 bis 27.

DOMRADIO.DE: Ich zitiere aus der UN-Erklärung der Menschenrechte: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Ist das so? Oder welche Erfahrung haben Sie als junger Erwachsener gemacht, als Sie miterleben mussten, dass mitten durch Berlin eine Mauer gezogen wurde?

Lietz: Meine eigene Biografie ist eng mit der Geschichte der Menschenrechte verwoben. Wir leben heute in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Wir müssen feststellen, dass zunehmend Völker und Nationen weltweit immer weniger bereit sind, vorhandene Konflikte gewaltfrei zu lösen. 

Stattdessen versuchen sie mehr und mehr, notfalls auch mit Gewalt, ihre Interessen ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Menschen werden getötet, Landschaften verwüstet, Städte und Dörfer zerstört. Gibt es etwas, das uns Menschen trotz unterschiedlicher oder gegensätzlicher Interessen dennoch miteinander verbinden könnte? 

Schon in den 50er Jahren, als in der DDR der Stalinismus herrschte und ein massiver Kampf zwischen Staat und Kirche an der Tagesordnung war, machte ich als Kind aus einem Pfarrhaus negative Erfahrungen mit dem politischen System. 

Ein Teil meiner Geschwister durfte nicht zur Oberschule, weil er zur Jungen Gemeinde gehörte. Sogar 1987 war noch eines meiner Kinder davon betroffen. Wie aber war das vereinbar mit dem Recht auf Religionsfreiheit, Artikel 18 der Menschenrechtserklärung?

Der Mauerbau, der die Menschen brutal voneinander trennte, veränderte dann in der Tat noch einmal nachhaltig mein Verhältnis zu diesem Staat. Schließlich wurde damit Artikel 13 der Menschenrechtskonvention, dass jeder Mensch das Recht hat, jedes Land, einschließlich sein eigenes, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren, faktisch außer Kraft gesetzt. 

Der Kampf um dieses Menschenrecht entwickelte in den 80er Jahren eine immer stärkere Dynamik. Mit dem Mauerbau wurden wir faktisch Leibeigene dieses Staates. Der 13. August 1961 – ich hatte gerade Abitur gemacht – zerstörte alle meine Träume und sorgte für einen regelrechten Schock.

DOMRADIO.DE: Welche Perspektive sahen Sie da noch für sich?

Lietz: Mit dem Mauerbau wurde die Wehrpflicht eingeführt und ich begann in Rostock ein Theologiestudium. Bei meiner Musterung erklärte ich, dass ich aus Gründen meines christlichen Bekenntnisses keinen Wehrdienst leisten könne. Ich sah mich dabei auch in Übereinstimmung mit Artikel 18 der Menschenrechtskonvention bezüglich der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. 

Doch während ich dann 1966 meine kirchliche Arbeit als Vikar begann, überraschte mich der Einberufungsbefehl zur Armee. Der Wehrdienst war Pflicht und wer sich weigerte, wurde mit 18 Monaten Gefängnis bestraft. Normalerweise wurden kirchliche Mitarbeiter nicht eingezogen, wenn die Kirche für sie einen Rückstellungsantrag gestellt hatte. Das aber hatte man bei mir versäumt. 

Als ich am Einberufungstag nicht erschien, wurde ich zu Hause abgeholt und ins Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Das befand sich groteskerweise genau gegenüber den Seminarräumen der Theologischen Fakultät.

DOMRADIO.DE: Sie galten nun als "Totalverweigerer". Später haben Sie als Pastor die Domgemeinde von Güstrow mitgeleitet und waren nebenamtlich Studentenpfarrer, bis Sie wegen theologischer Konflikte das Pfarramt niederlegten und danach aus dem Kirchendienst entlassen wurden. 

Wie schauen Sie heute auf diese Zeit zurück? War diese Rebellion der Anfang eines Kampfes für die Würde des Menschen – gerade in einem Regime der Unterdrückung, der Bespitzelung und des Unrechtes?

Heiko Lietz

"Mir war klar, dass wir die Gesellschaft so verändern müssen, dass die Würde des Menschen nicht angetastet wird."

Lietz: Der Kampf um die Würde des Menschen begleitet mich schon seit Studententagen – vielleicht auch, weil ich immer schon ein ausgeprägtes Solidaritäts- und Rechtsgefühl hatte und mich stets eine konsequente Wahrheitssuche beschäftigt hat und auch das, was dem Menschen gut tut. 

Mir war klar, dass wir die Gesellschaft so verändern müssen, dass die Würde des Menschen nicht angetastet wird. Die Menschenrechtsfrage ist seitdem Grundlage meiner späteren Arbeit in Kirche und Gesellschaft gewesen. 

Als ich 1970 als Pastor ordiniert wurde, trat ich meinen Dienst in Güstrow an und thematisierte mit Studenten eines Abends auch die Menschenrechte. Doch der Staat meinte, weil das nicht zu meinen eigentlichen Berufsaufgaben gehöre, müsse ich diese Veranstaltung anmelden. 

Da ich mich nicht darauf einließ, musste ich eine Ordnungsstrafe zahlen. Zunehmend öfter habe ich mich in dieser Zeit gefragt, in welcher Gesellschaft ich eigentlich lebe, wo Einzelne derart an ihrer Entfaltung gehindert werden.

DOMRADIO.DE: War das der Auslöser für Ihr politisches Engagement? Das Ministerium für Staatssicherheit rechnete Sie jedenfalls zum "harten Kern" der DDR-Oppositionellen und nannte Sie in einem Atemzug mit Bürgerrechtlern wie Bärbel Bohley…

Lietz: Ende der 70er Jahre bildete sich unter dem Dach der Kirche eine unabhängige Friedensbewegung. Besonders brisant waren die Fragen des Wehrunterrichts, des Armeedienstes und der vormilitärischen Ausbildung. Immerhin waren alle jungen Menschen davon betroffen. 

Zu den kontrovers geführten Friedensfragen in unserem Land wollten wir 1982 als Kessiner Friedenskreis, zu dem auch Markus Meckel -der spätere DDR-Außenminister- und Gerhard Poppe -der spätere Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik- gehörten, in einen konstruktiven Dialog mit staatlichen Vertretern kommen. 

Doch diese lehnten immer wieder ab, weil wir für sie – als potentielle Staatsgegner – keine legitimen Gesprächspartner waren. Nach einer Reihe frustrierender Erfahrungen keimte bei einigen von uns 1984 immer nachdrücklicher der Gedanke auf, das gesamte System grundlegend überwinden zu wollen. Allerdings hatten wir damals noch keinen Plan, wie das gelingen könnte.

In den kommenden Jahren wurde die Zahl der Friedenskreise und Menschenrechtsgruppen, die mich zu ihrem Sprecher wählten, immer größer. Menschenrechtsfragen rückten stärker in den Vordergrund. Es gab viele neue Ideen, die zu einer Aufbruchstimmung führten. Dabei kämpften wir zunächst nicht für die Vereinigung beider deutschen Staaten, sondern für eine gerechte Gesellschaft. 

Einer der politisch einflussreichsten Kreise war die "Initiative für Frieden und Menschenrechte", zu der auch Bärbel Bohley und Ulrike Poppe gehörten. Die erste koordinierende Zusammenkunft der verschiedenen Menschenrechtsgruppen fand 1988 in Warin, einer kleinen Stadt in Mecklenburg, statt. 

Die nächstgeplante 1990 in Güstrow erübrigte sich glücklicherweise, weil inzwischen die Friedliche Revolution die ganze Gesellschaft gewaltfrei zum Tanzen gebracht hatte. Sie war vor allem ein Kampf um die politischen und bürgerlichen Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit oder das Recht auf Reisefreiheit. 

DOMRADIO.DE: Als Vertreter des "Neuen Forum" haben Sie dann am Zentralen Runden Tisch an dem Entwurf einer neuen Verfassung der DDR mitgewirkt. Sie waren als Vertreter der Bürgerbewegung außerdem in der "Kommission für die Erarbeitung einer Landesverfassung" für Mecklenburg-Vorpommern tätig und haben die Diskussion um eine neue Verfassung für Deutschland mitgestaltet…

Lietz: Weil die Revolution friedlich verlief, konnten wir in Berlin einen Zentralen Runden Tisch gründen, der am 7. Dezember 1989 zum ersten Mal tagte. Es war ein Format, an dem die beiden ehemals feindlich gegenüberstehenden Seiten bereit waren, die bestehenden Konflikte gewaltfrei miteinander zu lösen. 

Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörte, freie und geheime Volkskammerwahlen durchzuführen sowie den Entwurf für eine neue DDR-Verfassung auszuarbeiten. Dieser Entwurf ist für mich bis heute von fundamentaler Bedeutung. In ihm wurde schon Jahre vor den UNO-Beschlüssen festgeschrieben, dass wirklich alle Menschenrechte einander bedingen, aufeinander angewiesen und einklagbar sind. 

Heiko Lietz

"Bis heute sind wesentliche Aspekte unserer Vision von damals noch nicht umgesetzt, so dass die Bundesregierung vom Menschenrechtsausschuss der UNO immer wieder gemahnt wird, auch das Fakultativprotokoll über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu unterzeichnen."

Als Vertreter des "Neuen Forums" saß ich mit an diesem Runden Tisch. Mir ging es darum, eine grundlegende Demokratisierung der DDR-Gesellschaft zu erreichen und Verfassungsrechte als einklagbare Grundrechte zu verankern. 

Dabei trieb mich die Frage um: Ist unser System wirklich menschenwürdig? Wie muss unsere Gesellschaft aussehen? Und was versteht man unter der "Würde des Menschen", was unter dem Begriff "Rechtsstaat" und was bedeutet konkret "Recht auf Arbeit"? 

Das ist für mich als Mensch und als Pastor, der für die Gemeinschaft mitdenkt, von fundamentaler Bedeutung. Bis heute sind wesentliche Aspekte unserer Vision von damals noch nicht umgesetzt, so dass die Bundesregierung vom Menschenrechtsausschuss der UNO immer wieder gemahnt wird, auch das Fakultativprotokoll über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu unterzeichnen. 

Denn das Recht auf soziale Sicherheit, auf Arbeit und gleichen Lohn, auf eine Wohnung sowie auf Bildung und Teilhabe ist als einklagbares Grundrecht nicht im Grundgesetz festgeschrieben. 

DOMRADIO.DE: Wie kamen Sie in den 1990er Jahren mit der Neuorientierung in einem vereinigten Deutschland zurecht?

Lietz: Ich trat in eine neue politische Welt ein. Jetzt galt auch für mich das Grundgesetz als der politische Orientierungsrahmen und die erweiterte Bundesrepublik nach Artikel 23 als gelebter Praxisraum. Wir waren entsprechend dem Einigungsvertrag angeschlossen worden, weil die Mehrheit der DDR-Bevölkerung es mit der Volkskammerwahl so gewollt hatte. 

Ich aber hatte das nicht angestrebt. Eine politische Vereinigung beider deutscher Staaten wäre nach Artikel 146 des Grundgesetzes durch eine Verfassungsdiskussion und einen Volksentscheid vollendet worden. Außerdem war ich nicht damit einverstanden, dass im Kapitel der einklagbaren Grundrechte auch zukünftig nur die politischen und bürgerlichen Rechte aufgeführt wurden, nicht aber auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Es war genau umgekehrt wie in der DDR. Diesen elementaren Geburtsfehler wollte ich auch hier nicht mittragen. 

DOMRADIO.DE: Was dagegen war mehrheitsfähig?

Lietz: Die meisten wollten eins zu eins den direkten Anschluss an die Verhältnisse im Westen und keine gesellschaftliche Reformation, keine Experimente. Man wollte die Chance nutzen, an Wohlstand und Teilhabe anzudocken, bis es zu den ersten Frustrationserlebnissen kam. 

Plötzlich schlossen die Betriebe, viele Menschen wurden arbeitslos und mit ihren elementaren Grundbedürfnissen nicht gesehen. Das macht es heute auch der AfD so leicht, diese Gruppe der Enttäuschten, die ihre Träume im Alter gefährdet sehen, auf der emotionalen Ebene abzuholen. 

Denn diese Partei hat zwar sehr feine Sensoren für die Konflikte, die in der Gesellschaft entstehen, bietet aber nur Schein-Lösungen an, die jedoch das gedeihliche Zusammenleben aller in Deutschland lebenden Menschen aufs Höchste gefährden.

DOMRADIO.DE: Was bedeutete die weitere politische Entwicklung für das Thema Menschenrechte?

Lietz: Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/1990 hatte sich die Situation für den Kampf um die Menschenrechte weltweit verbessert. Die zweite Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen, die 1993 in Wien stattfand und an der 171 Staaten teilnahmen, stand unter einem sehr viel besseren Stern, obwohl sich eine neue Konfrontation mit China und einigen anderen asiatischen Staaten anbahnte. 

Das Thema der Universalität der Menschenrechte wurde auch auf dieser Konferenz sehr kontrovers diskutiert. Am Ende beschloss man aber in der "Wiener Deklaration", dass es die Pflicht der Staaten ist, ohne Rücksicht auf ihre jeweilige politische, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen. 

Diese Deklaration wurde seitdem die von allen anerkannte neue Geschäftsgrundlage für den weiteren wichtigen Diskurs, wie die Universalität der Menschenrechte angemessen in den jeweiligen nationalen Kontext umgesetzt werden kann. 

1998 erweiterte die Generalversammlung noch einmal ihre Forderungen. In ihrer Erklärung wird jeder Staat auf seine Verantwortung und Pflicht verwiesen, alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu schützen, zu fördern und zu verwirklichen, damit die Menschen sie auch in ihrer Praxis genießen können. 

Doch die westdeutschen Bundestage und Regierungen haben sich bisher mit fadenscheinigen Ausreden geweigert, ihren Pflichten nachzukommen.

DOMRADIO.DE: …was Sie nicht auf sich beruhen lassen wollen…

Lietz: Nein, ich habe mich mit anderen zusammengetan und einen Appell an den Deutschen Bundestag gerichtet. Darin haben wir die Abgeordneten aller Fraktionen aufgefordert, endlich dem Appell der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu entsprechen und auch die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte als einklagbare Grundrechte in das Grundgesetz aufzunehmen und das dazugehörige Fakultativprotokoll in Kraft zu setzen. 

Doch bis heute ist Entsprechendes nicht erfolgt. Deswegen ist es immer wieder nötig, diesen Skandal öffentlich zu machen. Ich frage mich, wie lange ein gesellschaftliches System eine solche Verweigerung noch durchstehen kann. Wann werden aus den sich zuspitzenden sozialen Konflikten die politischen Konflikte so massiv, dass das gesamte gesellschaftliche System zu kollabieren droht? 

DOMRADIO.DE: Was ist die Lösung?

Lietz: Jedenfalls nicht zu resignieren. Als Seelsorger habe ich gelernt, niemanden zu überfordern. Von daher habe ich die Hoffnung, dass sich die Menschen besinnen und auch die Gesellschaft mehr Potential hat, als sie momentan erkennen lässt. Denn in diesen unruhigen Zeiten ist es umso wichtiger, Leuchttürme der Menschlichkeit aufzurichten, die Orientierung geben. 

Wenn wir eine menschenfreundlichere Zukunft wollen, ist es unabdingbar, dass wir uns auch zukünftig an dem Satz aus der Präambel der Charta der Vereinten Nationen orientieren: "Die Würde, die allen Menschen innewohnt, ist die Grundbedingung für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt." 

1990 hatten wir eine Vision, wie Deutschland einmal aussehen könnte. Und dieser Vision bin ich bis heute treu geblieben, weil die Würde des Menschen für mich und hoffentlich auch für immer mehr Menschen nicht verhandelbar ist.  

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Quelle:
DR