In seinem Buch "Haus auf festem Grund" beschreibt der frühere Wiener Erzbischof, Kardinal Franz König, wie sehr es ihn bewegt habe, als in der letzten öffentlichen Sitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 7. Dezember 1965 Papst Paul VI. in Rom und Patriarch Athenagoras in Konstantinopel/Istanbul in gleichzeitigen Erklärungen die Exkommunikationen des Jahres 1054 aus dem Gedächtnis der Kirchen getilgt hätten:
"Ein Schlüsselerlebnis der vom Konzil ausgehenden Impulse und des später einsetzenden Rezeptionsprozesses war für mich der Abschluß des Konzils in St. Peter am 7. Dezember 1954. Papst Paul VI. hielt den feierlichen Abschlußgottesdienst. [...].
Ich selbst gehörte zu der kleinen Gruppe, die am Papstaltar alles genau miterleben konnte, als der Papst nun der dichtgefüllten Kirche [...] feierlich mitteilte: Zu dieser Stunde verkündet der Patriarch von Konstantinopel und verkünde ich jetzt als Inhaber des Petrusamtes, daß jene Bulle, die das Schisma von 1054 ausgelöst hat, welche die Kirche in eine abendländische und eine morgenländische getrennt hatte, daß diese Bulle und ihr Inhalt ab heute für nichtig erklärt werde."
Dieser Augenzeugenbericht belegt, welche ökumenische Begeisterung in der Aufbruchstimmung des Zweiten Vatikanischen Konzils die Tilgung der Exkommunikationen des Jahres 1054 aus dem Gedächtnis der Kirchen ausgelöst hat.
Das Datum einer Kirchenspaltung, eines "Schismas", zwischen den Kirchen des Ostens und des Westens im Jahr 1054 hat sich - vielleicht auch aufgrund dieses ökumenischen Meilensteines - allerdings fest im allgemeinen Gedächtnis eingebrannt.
Schisma als längerer Prozess
Dabei hat die jüngere Forschung herausgearbeitet, dass die Entfremdung zwischen den Kirchen des Westens und des Ostens besser als längerer Prozess verstanden werden sollte.
Der fand dann seinen traurigen Höhepunkt in den Jahren 1098 bis 1204, in denen lateinische Kreuzfahrer in Antiochien, Jerusalem und Konstantinopel die griechischen Patriarchen vertrieben und an deren Stelle lateinische installierten (vgl. auch die Dokumentation des Irenaeus-Arbeitskreises in KNA-Hintergrund 46/2025).
Denn im Jahr 1054 selbst hatte der päpstliche Gesandte Humbert von Silva Candida zwar den Patriarchen von Konstantinopel, Michael Kerullarios, sowie einige von dessen Anhängern exkommuniziert, nicht aber die gesamte Kirche von Konstantinopel.
Umgekehrt hatte dieser nur die Verfasser der römischen Exkommunikationsbulle aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen, nicht aber den Papst in Rom.
Hinzu kommt, dass der griechische Patriarch Petros III. von Antiochia just im Jahr 1054 die Kirchengemeinschaft mit Rom bestätigte, in dem ein "Schisma" zwischen den Kirchen des Ostens und des Westens erfolgt sein soll.
Des Weiteren haben auch nach dem Jahr 1054 griechische und lateinische Christen in unterschiedlichen Kontexten - beispielsweise in Süditalien - gemeinsam die Eucharistie gefeiert.
Schließlich war es die römische Kongregation für die Verbreitung des Glaubens (Congregatio de Propaganda Fide), die erst im Jahr 1729 Katholiken die Sakramentengemeinschaft mit orthodoxen Christinnen und Christen untersagt hat.
Eine orthodoxe Synode zog 26 Jahre später, 1755, nach und stellte die Gültigkeit der Sakramente der (westlichen) "Häretiker" infrage. Aufgrund dieser jüngeren historischen Erkenntnisse werden die historischen Ereignisse in Konstantinopel 1054 zwar relativiert. Die Erklärungen des Jahres 1965 verlieren dadurch aber nichts an ihrer ökumenischen Symbolhaftigkeit.
Warum noch keine Kircheneinheit?
Wenn es trotz der Tilgung der Exkommunikationen des Jahres 1054 noch nicht zur vollen Eucharistie- und Kirchengemeinschaft zwischen den Kirchen von Rom und den östlichen Kirchen gekommen ist, dann liegt dies in erster Linie an unterschiedlichen Ansichten über die Struktur der Kirche.
Während die katholische Theologie die einheitsstiftende Funktion des römischen Papstamtes betont, unterstreicht die östliche Theologie eher den synodalen Aufbau der Kirche, die ihre Entscheidungen auf den diversen Ebenen in kollegialen Gremien trifft.
Deswegen sehen einflussreiche orthodoxe Kreise in den lateinischen Festlegungen des zweiten christlichen Jahrtausends über die Struktur der Kirche eine unzulässige Entwicklung. Dazu kommen in jüngerer Zeit divergierende Anschauungen in Ethik und Moral.
Schließlich stellt sich angesichts der Spannungen zwischen Konstantinopel und Moskau die Frage, welches Gremium für alle orthodoxen Kirchen auf ökumenische Initiativen antworten kann - etwa auf ökumenische Vorschläge, einen gemeinsamen Termin für die Feier des Osterfestes zu finden, wie es die unterschiedlichen Kalender für das Jahr 2025 gewollt haben.
Trotz der Tilgung der Exkommunikationen des Jahres 1054 bleibt der Weg zur Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft zwischen den Kirchen von Rom und Konstantinopel noch weit.
Viele ökumenische Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten machen aber Hoffnung, dass beide Seiten den Weg zu mehr Miteinander weitergehen werden. Die Erinnerung an die Tilgungen vor 60 Jahren könnte Anlass für neue Impulse geben.
Bei seinem jüngsten Besuch des Ökumenischen Patriarchen in Istanbul erinnerte Papst Leo XIV. an den Meilenstein des Jahres 1965. Diese historische Geste habe vieles schon ermöglicht. Nun gehe es darum, "sich verstärkt um die Wiederherstellung der vollen Gemeinschaft" zu bemühen.
Allerdings ist das Interesse daran innerhalb der Orthodoxie unterschiedlich groß. Weswegen der Papst an Bartholomaios gewandt sagte: "Ich hoffe, dass Sie weiterhin alle Anstrengungen unternehmen werden, damit alle autokephalen orthodoxen Kirchen wieder aktiv an diesem Engagement teilnehmen."
Am Sonntag gibt es zum Jahrestag ein eigenes Symposium am Angelicum, der Hochschule der Dominikaner in Rom. Dort sprechen unter anderem der vatikanische Ökumeneminister, Kardinal Kurt Koch, sowie Metropolit Job von Pisidien, Vertreter des Ökumenischen Patriarchats beim Weltkirchenrat und mit Koch Co-Präsident der internationalen katholisch-orthodoxen Kommission für den theologischen Dialog.