Gemeinde in Haltern am See setzt neue Akzente

"Wir verstecken uns nicht hinter dicken Kirchenmauern"

Ins Gespräch kommen - über den Missbrauch in der Kirche und die Folgen, über die vielen Kirchenaustritte und über alles andere, das die Menschen vor Ort interessiert: Darauf setzt gerade die Gemeinde St. Sixtus in Haltern am See.

"Pastors Biergarten" in Haltern am See / © Steffi Biber (St. Sixtus Haltern am See)

DOMRADIO.DE: Erst mal zum Thema sexuelle Gewalt: Sie haben in Ihrer Gemeinde eingeladen zu einem Gesprächsabend, nachdem das Bistum Münster die Studie vorgestellt hat. Wie lief der Abend ab? 

St. Sixtus, Haltern am See / © Steffi Biber (St. Sixtus Haltern am See)

Pfarrer Michael Ostholthoff (Leitender Pfarrer, Gemeindebegleiter St. Sixtus): Das Ganze war eine Podiumsdiskussion in einer unserer Innenstadtkirchen. Wir hatten einen Betroffenen auf dem Podium, Herrn Kock aus Dülmen, der da Rede und Antwort stand und viel aus seinem Leben erzählt hat. Herr Frings, der Interventionsbeauftragte vom Bistum Münster, war da und Christiane Florin vom Deutschlandfunk. Die hat schon diverse Male publiziert zu dem Thema, ist Expertin und die haben wir ja auch gewinnen können für diesen Abend.

Dann wurde es eine doch sehr lebendige, kontroverse Diskussion. Und viele der Besucher haben die Rückmeldung gegeben, dass sie doch sehr bereichert aus diesem Abend dann wieder nach Hause gegangen sind, weil das Thema schlichtweg nicht totgeschwiegen werden darf. Wir müssen miteinander ins Gespräch kommen, auch wenn es natürlich schwerfällt, da wirklich richtige Worte zu finden. 

DOMRADIO.DE: Sie sind jetzt ja bewusst mit dieser Veranstaltung in eine Kirche gegangen. Kam das gut an? Ich meine, Kirche samt Sakristei sind ja durchaus Räume der Täter und Opfer. 

Ostholthoff: Ja, also wir haben uns sehr bewusst mit dieser Frage auseinandergesetzt und hatten auch den Betroffenen befragt, ob er überhaupt bereit ist, in einen Kirchenraum zu gehen, um dort mit uns zu sprechen. Das hat er dann bejaht und wir haben dann dahingehend sehr bewusst auf diese Raumentscheidung reagiert und haben gesagt, dass Betroffene, die etwa zu diesem Abend dazukommen, die Möglichkeit haben, Ansprechpartner zu finden im hinteren Bereich der Kirche. Das wurde auch sehr rege genutzt.

Wir haben gemerkt: Man muss sehr bewusst umgehen mit unseren Eingeladenen. Man darf eben nicht einfach sagen: "Ja, uns als Kirche ist der Ort ja genehm." Sondern man muss natürlich inhaltlich für sich klar bekommen, dass damit eben auch so ein Rahmen gesetzt wird, der für etwaige Gäste belastend sein kann. Das haben wir so versucht, gut hinzubekommen und die Rückmeldung war dann auch, dass über 20 Betroffene alleine als Gäste an dem Abend in der Kirche waren und dass sie sich da eben sehr gut angenommen fühlten. 

DOMRADIO.DE: Jetzt muss sich dieser Umgang mit der Aufarbeitung sexueller Gewalt ja ändern. Es darf auch auf gar keinen Fall mehr zu neuen Übergriffen kommen. Was für Konsequenzen ziehen Sie jetzt für Ihre Pfarrei aus dieser Veranstaltung und aus der Studie? 

Ostholthoff: Ja, also allgemein haben wir natürlich schon auch als Pfarrgemeinde viele Konsequenzen gezogen, haben ein institutionelles Schutzkonzept erstellt, haben uns hier jetzt auch auf den Weg gemacht, dass wir als große Pfarrgemeinde mit über 20.000 Katholiken jetzt auch sagen: Wir haben so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir wollen als Pfarrgemeinde zum Beispiel jetzt auch vorangehen und stellen jetzt zwei Sexualpädagogen ein, die also nicht nur im Kontext unserer zehn Kitas zu unserer Pfarrgemeinde gehören, sondern auch in die Stadtgesellschaft, in unsere Pfarrgemeinde hinein ihre Impulse mit ihrer Arbeit setzen sollen.

Pfarrer Michael Ostholthoff

"Wir müssen den Betroffenen viel größeren Raum geben, das wurde dort ja ermöglicht."

Wir wollen aber auch weiterhin mit solchen Veranstaltungen wie letzte Woche Akzente setzen. Also ich habe bei der Podiumsdiskussion auch deutlich gesagt: "Sie werden nicht erleben, dass das Thema als erledigt zur Seite gelegt wird in unserer Pfarrgemeinde, sondern es wird immer und immer wieder adressiert werden." Ich habe mich so ein bisschen beklagt, dass ich immer wieder auch den Satz höre, auch von Gemeindemitgliedern, denen ich hier im Alltag begegne: "Ja, aber es muss doch jetzt irgendwann auch einmal gut sein, nach all den Jahren." Und dann zu sagen: "Nein, wir sind den Betroffenen schlichtweg verpflichtet, ihnen ein Ohr zu schenken."

Das hat ja die Missbrauchsstudie für das Bistum Münster gezeigt. Wir müssen den Betroffenen viel größeren Raum geben, das wurde dort ja ermöglicht. Auf vielen Hundert Seiten durften sie dort ihre grausamen Erlebnisse einer Öffentlichkeit zusprechen und sagen: "Schaut da bitte hin!" Wir wollen es nicht verschweigen, wir wollen es ins Wort bringen. Und unsere Verpflichtung ist es, ihnen auch wirklich weiterhin unser Ohr zu schenken und zu sagen: "Nein, wir wollen da hinhören."

Studie: Flächendeckender Missbrauch im Bistum Münster

Die Zahl der beschuldigten Priester und Missbrauchsopfer im Bistum Münster ist nach einer Studie der Universität Münster deutlich höher als bekannt. Laut der über zwei Jahre dauernden Forschungsarbeit eines fünfköpfigen Teams gab es von 1945 bis 2020 fast 200 Kleriker und bekannte 610 minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch. Damit sind 4,17 Prozent der Priester betroffen. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Die Forscher gehen von 5000 bis 6000 Opfern aus.

 Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch in Münster
 / © Lars Berg (KNA)
Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch in Münster / © Lars Berg ( KNA )

DOMRADIO.DE: Zweites Thema ist ja jetzt die große Anzahl an Kirchenaustritten. Sie haben es gerade gesagt: Sie haben 20.000 Gemeindemitglieder und jetzt haben Sie diese 20.000 zu einem Bier auf den Kirchplatz eingeladen. "Pastors Biergarten" nennt sich das. Braucht es solche Ideen, um Leute zu überzeugen zu bleiben? 

Ostholthoff: Wir wollen als Pfarrgemeinde deutlich machen: Wir verstecken uns nicht hinter dicken Kirchenmauern. Wir haben hier ein großes Programm aufgelegt für die Sommerferien, das heißt "Sommer-Kirche": Über 60 Veranstaltungen, Podiumsdiskussionen, Gottesdienste unter freiem Himmel, aber auch so gesellschaftlich gesellige Anlässe wollen wir nutzen.

Und da war eine Idee zu sagen: Wie wäre es denn, wenn der Pastor einfach mal auf ein Bier einlädt, um einfach mal miteinander ins Gespräch zu kommen, wo man nicht zuerst ein Kreuzzeichen machen muss, um mit dem Pastor irgendwie in Kontakt zu kommen, sondern wo das ganz niederschwellig möglich sein soll? Das sind jetzt gestern so an die hundert Menschen schon dabei gewesen. Das war ein guter Anfang und da werden wir jetzt weitere Anlässe finden in den Sommerferien. Pastors Biergarten ruft ganz dringlich nach Wiederholung. Also in zwei Wochen, meine ich, sind wir wieder am Start. 

DOMRADIO.DE: Dann wird sich jetzt meine letzte Frage wahrscheinlich schon erübrigen: Wie kann man die Frohe Botschaft Jesu an den Menschen bringen? Also mit Bier funktioniert es auf jeden Fall. 

Ostholthoff: Als Christen benennen wir uns nach diesem Jesus Christus und dem wurde schon vorgeworfen, dass er doch sehr gesellig in seinem Leben unterwegs war und jetzt nicht nur die die heiligen Sphären stetig suchte, sondern einfach auch mit den Leuten am Tisch saß, um mit ihnen auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen. Und ihnen war kein Thema fremd. So lese ich zumindest das Evangelium, dass er sich den Menschen in Gänze öffnen wollte und dass wir das als Kirche neu lernen, dass wir ein Interesse haben müssen am ganzen menschlichen Leben, ist wichtig.

Dass wir jetzt nicht nur sagen: Das ist exklusiv für die heilige Liturgie reserviert, sondern dass wir eben sagen: Nein, wir müssen eine ganz große Offenheit zeigen. Als Theologe spreche ich dann eben vom "Gedanken der Inkarnation" in unserem Glauben, also wörtlich übersetzt das "Ins-Fleisch-Kommen", also Menschwerden. Das hat uns der liebe Gott vorgemacht in Jesus Christus. Kirche muss da nachziehen. Also wir müssen unseren Glauben mehr ins Fleisch, ins alltägliche Leben hineinbringen. Und wenn uns das gelingt, dann finden wir auch wieder einen Zugang zu den Herzen der Menschen. 

Das Interview führte Oliver Kelch.

Quelle:
DR