Magdeburg am ersten Jahrestag des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt: Marco Gleißner steht an einer Mahnwache nahe dem Tatort, wo sein neunjähriger Sohn André vor genau einem Jahr brutal zu Tode kam. Fünf weitere Frauen starben damals bei der Amokfahrt, über 300 Menschen wurden teils schwer verletzt. "Wir haben keine Lust auf Weihnachten, haben auch nichts dekoriert", erzählt der 47-Jährige. Für seine Trauer findet er schwer Worte: "Es ist schwierig. Mein Kind ist tot." Die Ärzte hätten ihm eine posttraumatische Belastungsstörung attestiert.
Den Weihnachtsmarkt habe er dieses Jahr gemieden, sagt Gleißner, der noch vier weitere Kinder hat: "Es ist schwer, das alles zu sehen. Und ich habe auch Angst, dass wieder etwas passiert." Den Tag will er an der Mahnwache verbringen. Da müsse er niemandem etwas erklären. "Und in den Gottesdienst gehe ich. Auf die Gedenkstunde mit dem Bundeskanzler habe ich eigentlich keinen Bock." Er sei von den Behörden enttäuscht.
Namen und die Frage nach dem Warum?
Vor der Johanniskirche nahe dem Tatort brennen an diesem grau verhangenen Tag viele Kerzen, Menschen legen Blumen und Kuscheltiere nieder, verharren kurz. Viele haben kleine Gedenksteine bemalt. "Warum?" ist darauf immer wieder zu lesen. Jutta, Kathleen, Nadine, André, Birgit und Rita - die Vornamen der sechs Todesopfer werden im Gedenkgottesdienst verlesen. Für jedes von ihnen haben die Angehörigen Gedenkplatten gestaltet, die nahe dem Tatort im Boden eingelassen wurden. "Aus dem Leben entrissen! Niemals werden wir vergessen!" steht auf einer.
"Nach einem Jahr merken wir, dass die Finsternis immer noch da ist: Da sind Lücken, die der Verlust eines Menschen in Familien und Freundeskreise gerissen hat und sich nicht einfach wieder schließen. Unzählige tragen Verletzungen an Körper und Seele, die so schnell nicht heilen", sagte der katholische Bischof Gerhard Feige im Gedenkgottesdienst vor rund 250 Anwesenden. "Das Leben ist ein anderes, es ist ein Stück dunkler geworden."
Peggy Litzrodt war damals als Ersthelferin vor Ort und schildert, wie die Schreckenstat die fröhliche Weihnachtsmarktatmosphäre zerschnitt: "Man sah plötzlich Menschen herumschleudern. Und dann brach es aus, das Chaos. Schreie, unendliche Schreie. Menschen lagen kreuz und quer auf dem Boden und schrien vor Schmerzen. Man sieht Blut, verdrehte Gliedmaßen und alle schreien. Wem hilft man da zuerst?"
Chefarzt mit Déjà-vu-Erlebnis
Neben ihr berichten weitere Zeugen eindrucksvoll im Gottesdienst von ihren Erinnerungen. Der Chefarzt der Unfallchirurgie im benachbarten Stendal, Senat Krasnici, erzählt, wie ihm per Anruf ein "Großschadensereignis" mit vielen Schwerverletzten angekündigt wurde. Als er realisierte, worum genau es sich handelte, war es wie ein Déjà-vu: "Beim Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin 2016 habe ich als Arzt in der Charité gearbeitet und auch damals die Opfer versorgt."
So schrecklich alle Schilderungen aus der Tatnacht sind, so schließen sie doch alle mit Dank für die erlebte Nächstenliebe und im Bemühen um neue Hoffnung. Bürgermeisterin Regina-Dolores Stieler-Hinz fasst es so zusammen: "Wir können miteinander fühlen und heilen. Deshalb richten wir unseren Blick heute nach vorn. Trauer kann lähmen, aber auch verbinden. Lassen Sie uns eine Stadt sein, in der Mitgefühl lauter ist als Hass."
Irgendwie normal damit umgehen
Viele Weihnachtsmärkte in der Stadt sind am Jahrestag geschlossen, darunter der Tatort. Ein Passant berichtet, dass er auch dieses Jahr auf den Weihnachtsmarkt gegangen sei. Das Geschehene sei schrecklich, aber es habe jetzt keinen Einfluss auf seinen Alltag. Das deckt sich mit Beobachtungen von Notfallseelsorger Matthias Marcinkowski: "Die Menschen in der Stadt, die nicht direkt betroffen waren, versuchen, einen irgendwie normalen Umgang damit zu finden." Eine andere Passantin ärgert sich, dass die AfD und rechte Gruppen versuchten, die Tat des extrem islamkritischen Todesfahrers, der selbst aus Saudi-Arabien stammt, zu instrumentalisieren.
Seit Mitte November läuft am Landgericht der Mammutprozess mit über 180 Nebenklägern gegen den Todesfahrer. Dieser ist geständig, zeigt aber keine Reue. Anfang der Woche schilderten mehrere Zeugen im Prozess sehr ergreifend, wie der Anschlag sie und ihre Familie getroffen habe und bis heute belaste - mit schweren Verletzungen, körperlichen und psychischen Folgen.
Prozess und Gedenken - schwierig
Der laufende Prozess erschwert aus Sicht von Landesbischof Friedrich Kramer den Gedenktag. "Da ist eine große Gefahr der Re-Traumatisierung, die Opfer werden von vielem angetriggert und das geht mit der Trauer am Jahrestag schwer zusammen", sagte er auf Anfrage. Wichtig sei, das Gedenken trotzdem gut zu gestalten: "Aber das ist nicht einfach, da ja noch längst nicht alles aufgeklärt ist und viele Fragen auch nach Verantwortlichkeiten noch offen sind."