DOMRADIO.DE: Sie haben gerade ein Buch über die Geschichte der Christen in Gaza geschrieben. Inwiefern taucht denn die Region, die wir heute Gaza nennen, schon in der Bibel auf?
Georg Röwekamp (Langjähriger Repräsentant des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande in Jerusalem): Natürlich ist es eine Randregion des Heiligen Landes, aber gerade in den Geschichten aus dem Alten Testament über Simson – auch Samson genannt - taucht sie sehr prominent auf. Es wird erzählt, dass Samson dank seiner langen Haare übermenschliche Kräfte hatte, und als Richter die Feinde der Israeliten, die Philister, bekämpfte. Aber er wird in eine Falle gelockt, als Philisterin Delila ihm die Haare abschneidet. Und er kommt erst wieder zu neuer Stärke, als die Haare nachwachsen und dann reißt er die Säulen des Tempels der Philister ein und nimmt viele Feinde mit in den Tod.
Diese Geschichte wird als ein Beispiel für die Stärke der Israeliten gelesen und hat sogar dazu geführt, dass es im israelischen Militär heute eine "Shimshon-Doktrin" gibt, bei der es um nukleare Vergeltungsszenarien geht.
DOMRADIO.DE: Die Geschichte von Samson stammt aus dem Alten Testament, taucht die Region Gaza denn im Neuen Testament auch auf?
Röwekamp: Im Neuen Testament wird Gaza nur im Zusammenhang mit der Taufe eines äthiopischen Hofbeamten erwähnt, der auf dem Weg von Jerusalem in seine Heimat Äthiopien durch Gaza kommt und dort vom Apostel Philippus bekehrt und getauft wird.
Und man nimmt man an – und das ist für die heutige Christengemeinde in Gaza durchaus wichtig - dass die Heilige Familie ihren Weg nach Ägypten durch Gaza genommen hat, denn das ist der einzige Weg, der das Heilige Land mit Ägypten verbindet.
DOMRADIO.DE: Die Region hat eine wechselvolle Geschichte erlebt, sie stand unter babylonischer, assyrischer und persischer Kontrolle, Napoleon war dort und sie war Schauplatz im Ersten Weltkrieg: War also Gaza immer schon eine Konflikt-Region?
Röwekamp: Es gibt Bücher mit dem Untertitel "Gaza, City of many battles", also "Stadt vieler Schlachten". Das liegt zum einen daran, dass sie auf der Grenze zwischen dem Heiligen Land, Israel, Palästina und Ägypten liegt und oft ein Zankapfel zwischen diesen Mächten war.
Und natürlich war Gaza auch eine wichtige Hafenstadt: Von dort gelangte zum Beispiel der Weihrauch von der arabischen Halbinsel über die Weihrauchstraße an das Mittelmeer und vor dort aus nach Europa. Und von daher gab es immer wieder unterschiedliche Gründe, warum Gaza Teil kriegerischer Auseinandersetzungen war.
DOMRADIO.DE: Waren Christen dort denn immer eine Minderheit oder gab es auch eine Blütezeit?
Röwekamp: Unbedingt, und zwar ab dem vierten Jahrhundert: Da hat zum einen ein gewisser Hilarion das Mönchtum von Ägypten nach Gaza gebracht und hat die erste monastische Niederlassung im Heiligen Land begründet. Überreste dieses Klosters wurden erst vor einigen Jahren ausgegraben, es war ein wichtiges christliches Wallfahrtsziel und Hilarions Grab wurde von zahllosen Pilgerinnen und Pilgern verehrt.
Und eine andere wichtige Figur war Porphyrius von Gaza, einer der frühen Bischöfe im 5. Jahrhundert nach Christus. In dieser Zeit war Gaza eine blühende Metropole, so wie man damals nach Beirut ging, wenn man eine ausgezeichnete juristische Ausbildung anstrebte, ging man nach Gaza, um Rhetorik zu studieren. Viele Mönche lebten in der Umgebung und nicht zuletzt die prachtvollen Kirchenbauten mit ihren wunderbaren Mosaikfußböden - das Einzige, was erhalten ist - geben Zeugnis von dieser Blütezeit, die bis ins siebte Jahrhundert mindestens dauerte, bevor das Christentum dann im Zuge der Islamisierung zur Minderheit wurde.
DOMRADIO.DE: Die Hamas ist in Gaza seit 2006 an der Macht – wie erging es den Christen danach?
Röwekamp: Es gibt Stimmen, auch Christen, sie sagen, sie hätten sich alle als Palästinenser gefühlt und gut miteinander gelebt. Andere hingegen berichten von zunehmender Drangsalierung und dem Gefühl der doppelten Besatzung, sowohl von außen abgeschottet durch den israelischen Grenzzaun als auch unter dem inneren Druck der Hamas, die immer wieder verhindert haben soll, dass in den drei christlichen Schulen, die es dort gab, Jungen und Mädchen gemeinsam erzogen werden, dass jede öffentliche Erwähnung von etwas Christlichem gleich als Missionsversuch angesehen wurde und verschiedene andere Dinge. Nach dem, war ich erfahren habe, ist die Situation der Christinnen und Christen im Laufe der Jahre politisch immer schwieriger geworden.
DOMRADIO.DE: Sie beschreiben in Ihrem Buch auch, dass christliche Einrichtungen – wie beispielsweise die Schulen - von den Israelis bombardiert wurden. Weil sich auch dort Kommandostrukturen der Hamas befanden, wie die israelische Armee dann immer argumentiert?
Röwekamp: Ich bin natürlich nicht vor Ort und kann wenig Details sagen. Aber ich habe gehört, dass die Hamas schon vor dem Krieg auch unter den christlichen Schulen Tunnel angelegt hat, um im Fall einer Bombardierung sagen zu können: "Schaut, sie respektieren noch nicht einmal die christlichen Schulen", so dass hier wirklich Zivilisten und christliche Einrichtungen als Schutzschilde benutzt werden.
Die israelische Armee soll auch immer wieder die Koordinaten abgefragt haben, um diese möglichst zu schützen. Trotzdem wurden christliche Einrichtungen getroffen, ob nun bewusst oder unbewusst, in denen viele Menschen Zuflucht gesucht hatten. Bei der Bombardierung eines Gebäudes neben der Porphyrius-Kirche wurden 18 Christen getötet. Und Scharfschützen töteten zwei Frauen auf dem Gelände der katholischen Kirche "Zur Heiligen Familie".
DOMRADIO.DE: Sind Christen in Gaza von dem Krieg anders betroffen?
Röwekamp: Nein, ich glaube, da kann man nicht differenzieren. Es leiden alle unter der unsäglich schlimmen Situation, dem Hunger und dem Mangel an medizinischer Versorgung.
DOMRADIO.DE: Haben denn die katholischen Gemeinden noch Möglichkeiten, humanitäre Hilfe vor Ort zu leisten?
Röwekamp: In den vergangenen Monaten war vor allem wichtig, dass der Kontakt nach außen nicht ganz abgerissen ist. Papst Franziskus hat vor seinem Tod fast täglich dort angerufen und immer wieder signalisiert, dass die Christen dort nicht vergessen sind. Das lateinische Patriarchat, der Bischof in Jerusalem, hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Hilfsgüter hineinzubringen, was zeitweise möglich, aber auch sehr schwierig und kostspielig war. Und was ich höre ist, dass es zumindest noch einige Vorräte aus der Zeit vor dem Krieg gibt, die aber sehr streng rationiert werden, damit man möglichst lange überleben kann.
DOMRADIO.DE: Vor dem 7. Oktober 2023 zählte die christliche Gemeinde in Gaza noch 1.017 Mitglieder. Nun sind es nur noch die Hälfte. Wird es irgendwann keine Christen mehr dort geben?
Röwekamp: Das ist leider eine offene Frage. Einige haben inzwischen die Möglichkeit bekommen, auszureisen und wer will es ihnen verdenken? Von daher lebt wirklich nur noch eine sehr kleine Minderheit von Christen in Gaza und ob die anderen zurückkehren werden, weiß niemand. Es ist eine reale Gefahr, dass dort jetzt eine zweitausendjährige Geschichte des Christentums zu Ende geht.
DOMRADIO.DE: Was würde dadurch verloren gehen?
Röwekamp: Eine lebendige Verbindung zur Vergangenheit und ein weiteres christliches Zentrum wäre dann ohne Christen. Und das, was manche eben auch für das ganze Heilige Land befürchten, dass wir irgendwann ein christliches "Disneyland" haben mit ein paar ausländischen Christinnen und Christen, die die heiligen Städten betreuen, wäre in Gaza schon Wirklichkeit geworden.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.