Für Jugendliche ist das Leben zum Bewerbungsgespräch geworden

Die "Generation Casting"

Das Casting beginnt schon mit der Auswahl des richtigen Gymnasiums. Nach der Schule folgt die Suche nach der Wohnung - mit Bewerbungsgespräch, wie beim ersten Prakikum. Die Journalistin Lara Fritzsche hat Abiturienten ein Jahr lang begleitet. Ihr Fazit: Diese Generation kennt es nicht anders, als überall getestet zu werden.

Autor/in:
Sabine Damaschke
 (DR)

Tim hat es geschafft. Das Semester hat begonnen und sein Zimmer in der Kölner Wohngemeinschaft ist eingerichtet. Selbstverständlich war das nicht. Fast hätte er es so gemacht wie sein Freund Michael, wäre zuhause wohnen geblieben und zur Universität gependelt. Vier Wochen lang hat er jeden Tag im Internet die neuen Wohnungsinserate gecheckt, immer sofort angerufen, sich unzähligen Bewerbungsgesprächen der Vermieter und Mitmieter gestellt. "Viel länger hätte ich nicht mehr gesucht", sagt er. "Ich hatte echt keinen Bock mehr."

Dieses Eingeständnis macht Tim allerdings nur gegenüber der Journalistin Lara Fritzsche. Sie hat ihn und die anderen Mitschüler seiner Abiturklasse ein Jahr lang begleitet und deren Weg in die Selbstständigkeit in dem gerade erschienen Buch "Das Leben ist kein Ponyhof, die unbekannte Welt der Abiturienten" geschildert. Im Internetblog seiner Schulfreundin Rike gibt sich Tim gelassen und nimmt die intimen Fragen der WG-Bewohner über sein Liebesleben, seine Essgewohnheiten und den Grad seiner Ordentlichkeit mit Humor.

"Diese Generation kennt es nicht anders, als überall getestet und bewertet zu werden", sagt Lara Fritzsche. Folglich fänden sie es völlig normal, dass sie sich um ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft bewerben müssten und von den Mitbewohnern auf Herz und Nieren geprüft würden. "Aufgewachsen in den 90er Jahren, sehen die Jugendlichen Wettbewerb als einzig denkbare gestaltende Kraft." Kein Wunder, macht heutzutage doch knapp die Hälfte eines Geburtenjahrgangs in Deutschland Abitur. Vor 15 Jahren waren es nur 33 Prozent. "Worüber sich Bildungspolitiker freuen, bedeutet für die jungen Leute nur eines: mehr Konkurrenz", sagt die Bonner Journalistin.

Die Auswahl des "richtigen Gymnasiums"
Das Casting beginnt Lara Fritzsche zufolge schon mit der Auswahl des "richtigen Gymnasiums". "Heute reicht es eben nicht mehr, Abitur zu machen, es muss ein möglichst guter Abschluss auf einer guten Schule sein." Nur so, glaubten viele Eltern, bekämen die Jugendlichen das nötige Rüstzeug, um im Bildungswettbewerb erfolgreich zu sein. Denn der sei heute härter denn je, beobachtet die Journalistin. "Ob es sich um den Studienplatz, das Stipendium, das Praktikum oder letztlich um den Job handelt, überall sind Auswahlgespräche und mehrstufige Bewerbungsverfahren üblich."

Waren frühere Generationen stolz darauf, ihr Abitur in der Tasche zu haben, zählt heute der Notendurchschnitt. Begannen viele junge Leute früher einfach ein Studium nach Neigung, um sich dann für einen Job zu entscheiden, müssen sie heute aus fast 9.000 grundständigen Studiengängen wählen. "Diese Generation hat zwar viele Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten, aber sie muss sich meistens direkt für einen Weg entscheiden", sagt die Bonner Journalistin.

"Lieber vorsortieren und sich auf Wagnisse gar nicht einlassen"
Zeit verlieren, Fehler machen - dieser Gefahr wollen sich die meisten Abiturienten laut Fritzsche nicht aussetzen. "Dann lieber vorsortieren und sich auf Wagnisse gar nicht einlassen." Getreu dem Motto ihres Buches "Das Leben ist kein Ponyhof". Realistisch und abgeklärt sähen die Abiturienten die Welt, meint die Journalistin. Nicht verträumt wie kleine Mädchen, die von Pferden schwärmen.

Alles sei auf Effizienz ausgerichtet, kritisiert Fritzsche. Und das gelte auch fürs Privatleben. "Es geht vielen nicht nur darum, einen perfekten Lebenslauf für den zukünftigen Personalchef zu entwickeln", beobachtet die Journalistin. "In den sozialen Netzwerken basteln sie auch an einer möglichst ansprechenden und spannenden Biografie für Freunde und mögliche Partner." Der Zufall werde abgeschafft, sagt Fritzsche. So gebe es Jugendliche, die sich bereits vor einer Party online über die Gäste informierten und überlegten, mit wem sie sich dort unterhalten wollten.

Nur in einer Hinsicht erlauben sich die Abiturienten von heute noch Träume. "Sie alle glauben an die große und einzigartige Liebe." An eine Partnerschaft, die ein Leben lang hält, in der Kinder und Karriere problemlos realisiert werden können. Um die idealen Bedingungen dafür zu schaffen, wollen Jan und Dani zusammenziehen. "Es wird schon alles klappen, wie wir es uns erträumen", betont Dani in Fritzsches Buch. Und plötzlich ist das Leben doch ein Ponyhof.