Fall Kevin: Diskussion um Verfahren zur Rettung sozial bedrohter Kinder

Runde Tische, Sozial-Programme und Arztpflichtbesuche

Nach einer UNICEF-Studie zur Gewalt gegen Kinder in Industrieländern sterben in Deutschland jede Woche etwa zwei Kinder an den Folgen von Vernachlässigung oder Misshandlungen. Nach dem Tod des zweijährigen Kevin, dessen Leiche im Kühlschrank der väterlichen Wohnung gefunden worden war, entbrennt nun die Diskusssion um Präventivmaßnahmen im Jugendschutz.

 (DR)

Nach einer UNICEF-Studie zur Gewalt gegen Kinder in Industrieländern sterben in Deutschland jede Woche etwa zwei Kinder an den Folgen von Vernachlässigung oder Misshandlungen. Nach dem Tod des zweijährigen Kevin, dessen Leiche im Kühlschrank der väterlichen Wohnung gefunden worden war, entbrennt nun die Diskusssion um Präventivmaßnahmen im Jugendschutz. Neben Vorwürfen an das zuständige Amt für Soziale Dienste werden Forderungen nach Arztpflichtbesuchen und Programmen zur Rettung sozial bedrohter Kinder laut. Der Aachener Psychoanalytiker Micha Hilgers fordert im domradio-Interview eine Aufstockung der Mittel für rechtzeitige Präventivmaßnahmen.

Bremer Heimleiter erhebt Vorwürfe gegen Amt für Soziale Dienste
Nach dem Tod des zweijährigen Kevin erhebt der Leiter des Kinderheimes, in dem der Junge zwei Mal kurz untergebracht war, schwere Vorwürfe gegen das Amt für Soziale Dienste. Die Behörde habe den Jungen zum Vater gebracht, obwohl das Heim mehrfach dagegen interveniert habe, sagte der Leiter des Hermann-Hildebrandt-Hauses, Pape. Kevin war das erste Mal in das Kinderheim gekommen, als er zehn Monate alt war. Damals hatte die Polizei die drogenabhängige Mutter zusammen mit dem Baby aufgegriffen. Der Säugling wog 7,5 Kilogramm. Als der Junge nach dem Tod der Mutter ein Jahr später wieder von der Polizei ins Kinderheim gebracht wurde, hatte er gerade einmal 500 Gramm zugenommen. „Das hat uns ziemlich schockiert", sagte Pape.

Runde Tische zur Kindererziehung und Zwangsarztbesuche?
Der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle von Bund und Ländern, Rudolf Egg, fordert eine bessere Zusammenarbeit von staatlichen Stellen. So könnten in den Kommunen runde Tische eingeführt werden, an denen sich alle beteiligen sollten, die mit Kindererziehung zu tun haben - Eltern, Lehrer, Kindergärtner und Kinderärzte, sagte Egg am Donnerstag im ZDF-"Morgenmagazin". Sie könnten gemeinsam nach Mängeln und Verbesserungsmöglichkeiten suchen.

Egg mahnte zugleich das Überdenken von Prinzipien in der Kinderfürsorge an. Nicht immer sei ein Kind bei den leiblichen Eltern am besten aufgehoben. Das Prinzip, Kinder auch bei drogenabhängigen Eltern eher in der Familie als in einem Heim unterzubringen, sei zwar „im Grundsatz richtig", aber man müsse es auch hinterfragen. Der kleine Kevin wäre besser in einem Heim untergebracht gewesen.

Egg unterstützt zudem den Vorschlag für Pflichtbesuche von Kindern bei Ärzten. Damit könnten Fälle etwa von Kindesmisshandlung entdeckt werden, die sonst unentdeckt blieben. Allerdings räumte er ein, dass eine solche Maßnahmen im Falle Kevins nichts gebracht hätte. Zwangsuntersuchungen seien „kein Königsweg, aber sicher ein Weg". Diese fordert auch SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, er regt in diesem Zusammenhang an, skandinavischen Beispielen zu folgen und eine verpflichtende medizinische Vorsorgeuntersuchung einzuführen. So ließen sich schon früh Defizite in der Entwicklung erkennen.

Programm zur Rettung sozial bedrohter Kinder
Mit einem bundesweit einmaligen Programm zur Rettung sozial bedrohter Kinder startet der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer am 1. November in fünf Regionen Niedersachsens und in Bremen. „Wir wollen 280 Kindern und ihren Müttern eine Zukunftschance geben", sagte Pfeiffer dem Berliner „Tagesspiegel" (Freitagsausgabe).
Nach amerikanischem Vorbild will Pfeiffers Stiftung „Pro Kind" 280 sozial bedrohte Mütter in den ersten Schwangerschaftsmonaten finden und über Jahre hinweg von Hebammen und Familienhelfern begleiten lassen. „Die Mütter brauchen dringend Hilfe, um sich in der Gesellschaft zurechtzufinden", sagte Pfeiffer. Die Begleitpersonen sollen intensiven Kontakt zu den Müttern haben, sie zu gesunder Ernährung der Kinder und regelmäßiger medizinischer Betreuung anhalten und sie bei der Suche nach Kinderbetreuungseinrichtungen unterstützen.
Das Projekt soll inklusive der Begleitforschung in den ersten zwei Jahren rund drei Millionen Euro kosten. Es wird von Banken, Krankenversicherungen, den Kommunen, dem Land Niedersachsen und dem Bundesfamilienministerium unterstützt.

Rücktritt der Sozialsenatorin
Am Mittwoch war Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) zurückgetreten. Sie übernehme die Verantwortung im Fall Kevin. Die Staatsanwaltschaft teilte unterdessen mit, dass die Kinderleiche äußerliche Gewaltmerkmale aufweise. Ob der Junge an den Verletzungen gestorben sei, müsse noch geklärt werden. Mit dem Ergebnis der Obduktion sei erst in einigen Tagen zu rechnen. Die Staatsanwaltschaft will zudem die Ermittlungen wegen Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht auf bisher unbekannte Mitarbeiter des Amtes für soziale Dienste ausweiten. Gegen den 41-jährigen Vater des Jungen wurde Haftbefehl wegen Totschlags und Misshandlung von Schutzbefohlenen erlassen.
(ddp,dr)

Auch die Bundespolitik reagiert
Das Bundesfamilienministerium hat ein Frühwarnsystem entwickelt, das ab November 2006 in fünf norddeutschen Stadten aufgebaut wird. Die Abstimmung zwischen staatlichen Stellen, Jugendarbeitern, Sozialarbeitern und Gesundheitseinrichtungen soll besser koordindiert werden, um die gefährdeten Kinder früh zu finden und sie nicht in ein Vakuum zwischen den Zuständigkeiten fallen zu lassen. Dafür stellt das Ministerium 10 Millionen Euro zur Verfügung.
In Modellprojekten, die mit Ländern und Kommunen entwickelt werden, sollen hilfsbedürftige Familien vor oder ab der Geburt des Kindes intensiv begleitet werden. "Die Ärzte und Hebammen sind die ersten, die Kontakt zu allen Eltern haben, sie können am besten einschätzen, wer Hilfe braucht und so eine Kette an Unterstützung in Zusammenarbeit mit Jugendämtern und Familienhelfern auslösen", sagt von der Leyen.