Expertin sieht Kalkül in Debatte um Johannes Paul II.

"Versuch des innenpolitischen Machterhalts"

In einem Enthüllungsbuch und einer Fernsehdokumentation werden schwere Vorwürfe gegen Karol Wojtyla, den Heiligen Papst Johannes Paul II. im Umgang mit Missbrauch erhoben. Warum verteidigt ihn die Regierung so vehement?

Papst Johannes Paul II. am 7. Juni 1979 im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (KNA)
Papst Johannes Paul II. am 7. Juni 1979 im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau / ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sie forschen zum Thema "Religion und Nationalismus in Polen". Der Erzbischof von Krakau bezeichnete die journalistischen Recherchen als zweites Attentat auf Johannes Paul II. Was sagen die Reaktionen in dem Land über die Dimension dieser Debatte in Polen aus?

 © Gregorio Borgia/AP (dpa)
© Gregorio Borgia/AP ( dpa )

Dr. Anja Hennig (Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Frankfurt/Oder): Zur besseren Einordnung muss ich sagen, dass wir hier keine Mehrheitsdiskussion haben. Der Krakauer Erzbischof Marek Jedraszewski gilt wirklich als Hardliner und ist bekannt für solche Zuspitzungen. Mit Andrzej Duda gibt es den Vertreter der PiS-Partei, der Regierungspartei, die ganz klar national-rechts einzuordnen ist.

Was wir hier sehen, ist eine Politisierung. Es ist eine Enthüllung, die eigentlich gar nicht neu ist. Diese Information gab es schon vor einem Jahr, aber erst jetzt gibt es diese Serie, die in dem TVN-Sender ausgestrahlt wurde, einem ungeliebten US-finanzierter Sender. Somit lässt sich das gut als Medienkampagne konstruieren.

DOMRADIO.DE: Warum funktioniert diese Politisierung?

Hennig: Da gibt es, würde ich sagen, verschiedene Aspekte. Einmal ist ganz klar der aktuelle Kontext zu nennen. Im Oktober 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die PiS-Partei ist zwar weiter vorne, aber die Opposition könnte aufholen. Somit richtet sich diese Kampagne natürlich an die rechts-katholischen Akteure innerhalb der Parteienlandschaft, aber auch innerhalb der Kirche, die ansonsten auch heterogen ist und natürlich an die vor allem ländliche Bevölkerung im Südosten Polens.

Dann gibt es jüngere Menschen, die sich von der Kirche abkehren, nicht zuletzt aufgrund der Skandale, des Abtreibungsverbotes und der moral-politischen Positionen der Mehrheit der Kirche. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Serie, die in dem TVN-Sender ausgestrahlt wurde, der Partei schon lange ein Dorn im Auge ist. Das ist sozusagen erst mal der aktuelle Kontext.

Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass die Erkenntnisse auf Geheimdokumenten der kommunistischen Geheimpolizei beruhen.

Hier kommt man dann zur historischen Bedeutung von JPII, wie Johannes Paul II. liebevoll genannt wird. Denn er stand für den Widerstand gegen das kommunistische System. Die katholische Kirche hat immer einen Freiraum geschaffen.

Dr. Anja Hennig (Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Frankfurt/Oder)

"Dass diese Person des Papstes einfach als Mensch (...) wirklich eine Person ist, die verehrt und geliebt wird, die einfach ein Generationenverständnis geprägt hat."

Er war in den 70er Jahren noch Erzbischof und ist dann zum Papst gewählt worden, was aus dieser Situation heraus für das katholische Polen eine unglaubliche Bedeutung hatte.

Man muss dazu sagen, dass diese Person des Papstes als Mensch verehrt und geliebt wird. Er hat ein Generationenverständnis geprägt. Das ist sozusagen die zweite Ebene, die man auch nicht vernachlässigen sollte. Somit denke ich, hat man diese beiden Aspekte, die helfen diese Politisierung voranzutreiben.

DOMRADIO.DE: Der Staatspräsident hat gesagt, das Erinnern an den Heiligen Johannes Paul II. sei ein wesentlicher Bestandteil des nationalen Erbes. Die Erinnerung gehöre zur polnischen Staatsräson, die mit absoluter Hingabe und Entschlossenheit bewahrt werden solle, ohne Rücksicht auf die Folgen. Das sei die bürgerliche, patriotische und historische Pflicht. Inwieweit spielt es dabei eine Rolle, dass die polnische Regierung zur nationalkonservativen PiS-Partei gehört?

Dr. Anja Hennig (Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Frankfurt/Oder)

"Hier spielen moralpolitische Themen wie Abtreibung, Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, LGBTQ-Rechte eine Rolle, wogegen man sich positioniert. Hier kommt sozusagen das zivilisatorische Vermächtnis des Papstes mit rein."

Hennig: Das spielt natürlich eine Rolle. Das eine wäre eine Volksfrömmigkeit und eine ganz individuelle Beziehung zu dieser Person Karol Wojtyla, die viele haben. Das andere ist, dass die aktuelle Regierung ein Programm fährt, das klar patriotisch ist, Narrative konstruiert, die Polen auch innerhalb Europas als christlich-zivilisatorische Macht positioniert. Hier spielen moralpolitische Themen wie Abtreibung, Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, LGBTQ-Rechte eine Rolle, gegen die man sich positioniert.

Hier kommt das zivilisatorische Vermächtnis des Papstes mit rein. Er stand nicht nur für Demokratisierung und einen Aufbruch in Richtung Wende im System oder eine Blockkonfrontation. Vielmehr stand er auch für ein wirklich klar restriktives, moral-politisches Programm. Stichwort: die Kultur des Todes, wenn es um Abtreibung geht. Das kann man in der Enzyklika nachlesen.

Auf dieses Vermächtnis beruft sich die Regierung, wenn sie selbst moralpolitische Agenden formuliert und da ist das eine legitime katholische Kraft.

DOMRADIO.DE: Bewegt dieses Thema alle Generationen gleich?

Hennig: Jüngere Menschen sind deutlich weniger religiös. Man muss vielleicht mal den Faktor Geografie oder Geopolitik mit einbringen. Leben Sie in der Stadt oder im ländlichen Raum? Das gibt es überall. Junge Menschen in den größeren Städten sind im klassisch katholisch-polnischen Sinne deutlich weniger religiös. Oder sie gehen zu liberaleren Gemeinden, die es auch gibt, oder interessieren sich für ganz andere Religionen oder eben gar nicht mehr.

Auf jeden Fall ist es nicht so in dem Sinne, wie man es beispielsweise von den bekannten Radio Maria-HörerInnen kennt, die einen sehr stark konservativ-volksfrömmigen Zugang zur Religion haben.

DOMRADIO.DE: Warum tun Politik und Kirchenvertreter alles Mögliche dafür, dass der Heilige Papst Johannes Paul II. nicht vom Sockel geholt wird?

Hennig: Ich glaube, gerade ist es ganz konkret der Versuch des innenpolitischen Machterhalts, aus dieser Geschichte einen Punkt zu machen, der im Kontext der Wahlen steht. Es funktioniert aus den genannten Gründen.

Das Interview führte Dagmar Peters.

Polens Parlament verteidigt Johannes Paul II. gegen Vorwürfe

Als Reaktion auf den Vorwurf der Missbrauchsvertuschung verteidigt Polens Parlament den "guten Namen" von Papst Johannes Paul II. (1978-2005). Die Abgeordneten nahmen mit 271 gegen 43 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) einen entsprechenden Entschließungsantrag an. Die größte Oppositionsfraktion, die rechtsliberale Bürgerkoalition, boykottierte die Abstimmung.

Papst Johannes Paul II. in Polen im Jahr 1979 / © KNA-Bild (KNA)
Papst Johannes Paul II. in Polen im Jahr 1979 / © KNA-Bild ( KNA )
Quelle:
DR