Jüdische Intellektuelle als Wegbereiter für geeintes Europa

"Europa ist nicht perfekt, aber vollkommen"

Die europäische Einigung hatte Väter - und Mütter. Christen wie Adenauer und Schuman waren treibende Kräfte, aber auch Juden und Jüdinnen, wie am Dienstagabend in der Katholischen Akademie in Bayern deutlich wurde.

Autor/in:
Jutta Simone Thiel
Europa-Flagge / © symbiot (shutterstock)

Er war eigentlich ein Niemand: Er gehörte keiner Partei an, hatte kein Geld und als Adliger nach dem Ersten Weltkrieg ohnehin jeden Einfluss verloren. Doch Graf Richard Coudenhove-Kalergi war ein unerschütterlicher Optimist und schaffte es, die Intellektuellen seiner Zeit für die Idee eines geeinten Europas zu begeistern.

Veranstaltungsreihe "Reden über"

"Coudenhove-Kalergi war einer von vielen jüdischen Persönlichkeiten, die vor rund 100 Jahren die Paneuropa-Bewegung ins Leben riefen", berichtete Bernd Posselt, Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, am Dienstagabend in München.

Dort fand in der Katholischen Akademie in Bayern eine weitere Veranstaltung der Reihe "Reden über" des Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung, Ludwig Spaenle (CSU), statt. Dieses Mal ging es um das Thema "jüdische Wegbereiter der europäischen Einigung".

Wunsch nach Freiheit und Einigkeit

Es waren nicht nur Juden, die nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs von einer Aussöhnung der verfeindeten Länder träumten. Auch viele Unternehmer, die schon damals grenzüberschreitend tätig waren, strebten nach Frieden und Einigkeit. Versprachen sie sich doch von einem Wegfall wirtschaftlicher und politischer Hemmnisse letztlich höhere Gewinne.

"Gerade für die jüdischen Intellektuellen hatte dieses Thema aber weitreichendere Dimensionen: Sie spürten, welche Bedrohung der immer stärker werdende Nationalismus für sie darstellte, und versuchten, ein Gegengewicht zu schaffen", so Posselt. Albert Einstein, Stephan Zweig, Franz Werfel - die Liste der jüdischen Vorreiter eines geeinten Europas ist dementsprechend lang.

Nicht nur Gründerväter

Auch Ida Roland, die Gattin von Graf Richard Coudenhove-Kalergi, kann als treibende Kraft dieser Idee bezeichnet werden. Als gefeierte Schauspielerin, die unter anderen bei den Münchner Kammerspielen auftrat und eine Villa in Nymphenburg bewohnte, verkehrte sie in gesellschaftlichen Kreisen, die ihrem Mann ohne sie zeitlebens verschlossen geblieben wären. Begeistert unterstützte sie den Europa-Kongress, den er 1926 in Wien organisierte.

Dabei habe die Künstlerin aber nie nur die Ideen ihres Mannes kopiert, betont Posselt. Vielmehr sei es dem Bühnenstar gelungen, seine eigenen Konzepte auf Reisen bis nach Amerika zu tragen. "Wir sollten also nicht nur von den Gründervätern Europas sprechen", kritisiert der Paneuropa-Experte. "Wie man an Ida Roland sieht, gab es auch Gründermütter."

Nazis missbrauchten eigentlich positive Begriffe

Auch Bronislaw Hubermann, ein mittlerweile fast vergessener Violinist polnisch-jüdischer Herkunft, verbreitete den Europagedanken auf seinen Tourneen. Mit seiner Stradivari und einem international zusammengesetzten Orchester führte er dem Publikum bildlich vor Augen, wie viele Menschen unterschiedlichster Herkunft gemeinsam ein harmonisches Zusammenspiel schaffen können.

Als Hubermann 1933 eingeladen wurde, auch einmal mit den Berliner Philharmonikern zu spielen, antwortete er mit einem Brief, der seine Vorstellungen von Europa auf den Punkt bringt: "In Wirklichkeit ist es keine Frage von Violinkonzerten oder der Juden. Das Thema ist die Bewahrung der Dinge, die unsere Väter mit Blut und Opfern erreicht haben, der Freiheit des Individuums und seiner bedingungslosen Eigenverantwortung, unbehindert durch Fesseln von Kaste und Rasse."

Freiheit des Individuums, Eigenverantwortung, Rasse - der Musiker benannte damit Begriffe, die in den Folgejahren von den Nazis auf unglaubliche Weise missbraucht werden sollten.

Keine Perfektion, aber Vollzähligkeit

Als dann nach all den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges 1945 auch die Paneuropa-Bewegung wiederaufgebaut wurde, waren abermals Juden maßgeblich beteiligt. So etwa der Belgier Paul Levy, der für das Motiv der Europaflagge verantwortlich sein soll: ein Kreis aus 12 goldenen Sternen vor einem blauen Himmel.

Für den Paneuropa-Präsidenten Bernd Posselt ein Symbol der Vollkommenheit. "Nicht im Sinne von Perfektion. Europa ist alles andere als perfekt", sagte er. "Sondern im Sinne einer Vollzähligkeit, die kein Land, keine Rasse und keine Minderheit ausschließt."


Quelle:
KNA