Erzbischof Thissen über sexuellen Missbrauch in der Kirche

"Wir wollen Vorreiter der Aufklärung sein"

Seit Donnerstag sind die Zahlen auf dem Tisch: Bundesweit haben sich etwa 120 Männer und Frauen als Opfer sexuellen Missbrauchs durch Geistliche beim Jesuitenorden gemeldet. Von Montag an befasst sich die Deutsche Bischofskonferenz bei ihrer Vollversammlung in Freiburg mit dem Thema. Der Hamburger Erzbischof Werner Thissen über Ursachen, Fehler und Folgen.

Erzbischof Thissen und andere Bischöfe bei der Frühjahrs-Vollversammlung 2009 (KNA)
Erzbischof Thissen und andere Bischöfe bei der Frühjahrs-Vollversammlung 2009 / ( KNA )

KNA: Herr Erzbischof, nach Bekanntwerden der Fälle von sexuellem Missbrauch im Raum der Kirche fragen sich viele: Wie konnte es überhaupt dazu kommen?
Thissen: Man hätte sehr viel mehr tun müssen und können, um diese Fälle zu verhindern. Zum Beispiel war damals klar, dass zumindest einer der Patres, die unter anderem am Berliner Canisius-Kolleg gelehrt haben, im Bereich des Kindes- oder Jugendmissbrauchs sehr gefährdet ist. Dieser Pater hätte nicht wieder eingesetzt werden dürfen. Allerdings war man vor 30 Jahren bei diesem Thema weitaus weniger sensibilisiert als heute. Inzwischen sind Schulen, Jugendverbände und auch die Kirchen sehr vorgewarnt, bei den geringsten Anzeichen für solche Vergehen einzuschreiten.

KNA: Wie muss die Kirche mit diesen Vorwürfen umgehen?
Thissen: Das Wichtigste ist jetzt Aufklärung: Was ist gewesen, wer war daran beteiligt, wie ist es dazu gekommen, wer sind die Täter, wer sind die Opfer und wie kann man ihnen helfen? Dabei steht der Opferschutz ganz deutlich an erster Stelle, aber es geht auch um die Frage, wie man den Tätern helfen kann, dass sie auf einen Weg kommen, der ihnen ein Leben ohne diese furchtbaren Dinge ermöglicht.

KNA: Was hat die Kirche bislang gegen Missbrauch getan?
Thissen: Die Bistümer haben auf Basis der gemeinsamen Leitlinien der Bischofskonferenz von 2002 jeweils für sich selbst genaue Vorgehensweisen bei Fällen von sexuellem Missbrauch erarbeitet.
Wenige Tage, bevor die Vorfälle bei den Jesuiten ans Licht kamen, habe ich unsere überarbeitete Fassung unterzeichnet. Alles, was wir tun können, werden wir tun. Nur dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dann käme so etwas nicht mehr vor. Das ist ein gesellschaftliches Problem, was etwa das Thema Kinderpornografie im Internet offenbart. Laut Experten kommen die häufigsten Missbrauchsvorfälle im familiären und nachbarschaftlichen Bereich vor. Das ist überhaupt keine Entschuldigung für uns, aber wir können bei allem Bitteren dieser Vorgänge auch der Gesellschaft einen Dienst erweisen, indem wir deutlich machen: Hier wird nichts vertuscht, sondern die Dinge müssen aufgeklärt werden. Ich habe die Hoffnung, dass dadurch insgesamt in der Gesellschaft ein offenerer Umgang mit dem Thema praktiziert wird.

KNA: Sollte sich die Bischofskonferenz nicht stärker mit Maßnahmen zur Vermeidung solcher Missbrauchsfälle befassen anstatt mit Leitlinien zum Umgang mit bereits erfolgtem Missbrauch?
Thissen: Auch das gehört seit langem zu den Überlegungen in der Bischofskonferenz, aber auch in Bistümern und Orden: Wie können wir junge Menschen, die einen geistlichen Beruf als Priester oder als Ordensleute ergreifen wollen, hinführen, dass ihnen bewusst ist, was sie da auf sich nehmen und wie mit einer ehelosen Lebensweise umzugehen ist? In unser Priesterseminar laden wir zum Beispiel Vertreterinnen und Vertreter von Vereinigungen ein, die sich mit Missbrauchsfällen befassen. Außerdem sensibilisieren wir die angehenden Geistlichen mit Hilfe von psychologischer Beratung für dieses Thema.

KNA: Wie fühlen Sie sich als wichtiger Vertreter dieser Kirche angesichts dieser Vorgänge?
Thissen: Es ist beschämend und furchtbar bedrückend. Wenn ich nicht das Gebet hätte, wüsste ich nicht, wie ich damit umgehen könnte. Was mir auch hilft, ist unser gutes Netzwerk, in dem wir miteinander überlegen, wie wir mit dieser Situation umgehen können.

KNA: Wie empfinden Sie den Umgang der Öffentlichkeit mit der Kirche bei diesem Thema?
Thissen: Wenn anderswo solche Fälle vorkommen, wirbelt das weitaus weniger Staub auf, als wenn das in kirchlichen Bereichen geschieht.
Ich halte das auch für berechtigt. Denn wir sind als Kirche diejenigen, die am stärksten auf moralisches Verhalten hinweisen.
Wenn wir uns dann nicht daran halten, dann kann ich gut verstehen, dass das in der Öffentlichkeit besonders angeprangert wird.

KNA: Befürchten Sie einen Ansehensverlust der Kirche durch die Missbrauchsfälle?
Thissen: Ja, darüber müssen wir uns klar sein. Das werden wir noch lange zu spüren haben. Das können und dürfen wir auch nicht auf die Jesuiten schieben, denn die Jesuiten sind auch Kirche. Andererseits meine ich, dass wir auch die Chance haben, durch ein angemessenes Umgehen mit diesen furchtbaren Missbrauchsfragen der Öffentlichkeit deutlich zu machen: Wir wollen Vorreiter der Aufklärung in solchen Fragen sein.

Das Gespräch führte Sabine Kleyboldt.