Erzbischof Koch zu 30 Jahren wiedervereinigtes Deutschland

"Wir Christen sind für viele ein lebendes Fragezeichen"

Der Mauerfall und die Wende nach einer friedlichen Revolution gehören zu den beispiellosen Ereignissen deutscher Geschichte. Doch während die einen am 3. Oktober feiern, trauern andere noch immer Vergangenem nach. Die Kirche hat beide im Blick.

Erzbischof Heiner Koch / © Christoph Busse (KNA)
Erzbischof Heiner Koch / © Christoph Busse ( KNA )

DOMRADIO.DE: Herr Erzbischof, 30 Jahre deutsche Einheit – was fällt Ihnen zu diesem Feiertag spontan als erstes ein?

Dr. Heiner Koch (Erzbischof von Berlin): Dankbarkeit. Ich empfinde große Dankbarkeit, dass die Überwindung der Mauer, die für Unterdrückung und Gewalt stand, möglich war. Und ganz persönlich möchte ich hinzufügen: Hätte es die Wiedervereinigung nicht gegeben, wäre ich 2013 weder Bischof von Dresden-Meißen geworden noch 2015 Bischof von Berlin. Dankbar macht mich in diesem Zusammenhang auch, dass ich damit einem Bistum vorstehe, das trotz der Teilung Berlins immer als Einheit erhalten geblieben ist und dadurch auch zu einem Hoffnungszeichen der Einheit geworden ist. Was aber auch eine besondere Verantwortung mit sich bringt. Denn im Erzbistum Berlin gibt es Gebiete, die stark östlich – also von einem Leben unter der SED-Diktatur der DDR – geprägt sind und andere, die klar westlichem Einfluss unterlagen. Und dann komme ich immer wieder auch in Städte und Orte, wo sich beides miteinander mischt. Das heißt, ich treffe auf sehr unterschiedliche Menschen, die ihre je eigene Geschichte mitbringen, und mitunter auf Generationen, die in einer jeweils anderen Staatsverfassung aufgewachsen sind und eine unterschiedliche Entwicklung durchgemacht haben. Hier muss manches noch zusammenwachsen.

Wenn man bedenkt, dass mit der Wende 1,3 Millionen junge Leute in den Westen abgewandert sind, die nach neuen Chancen gesucht haben, dann lässt sich allein schon daran ablesen, welche weitreichenden Konsequenzen der Schritt der Wiedervereinigung mit sich gebracht hat. Schließlich haben ja viele damals erleben müssen, dass ihre Arbeitskraft von einem auf den anderen Tag nicht mehr gebraucht wurde, weil Betriebe reihenweise geschlossen wurden. Diese Menschen fühlen sich bis heute abgehängt und mit ihrer Lebensleistung nicht wertgeschätzt. Auch das ist eine Realität, die nicht aus dem Blick geraten darf.

Mit dem Beitritt der fünf neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, wie es offiziell heißt, haben wir vor 30 Jahren einen Weg begonnen, der noch lange nicht zu Ende ist. Im Gegenteil: Ein gutes Stück Wegstrecke liegt noch vor uns. Denn unzählige Geschichten von Menschen, die mit der Trennung zweier Staaten aufgewachsen sind, müssen noch zusammengefügt werden.

DOMRADIO.DE: Während die einen am 3. Oktober die Freiheit feiern, gibt es also auch diejenigen, in deren Seele die Wiedervereinigung eine unvernarbte Wunde geschlagen hat. Bis hin zu der Tatsache, dass es nicht wenige Einheitsgegner gibt, die sich auch heute noch von den rasanten Entwicklungen damals überrumpelt fühlen und sich mitunter lautstark Gehör verschaffen…

Erzbischof Koch: Natürlich gibt es aus dieser Zeit noch Verletzungen. Menschen, die mit ihrem Schicksal hadern, begegne ich immer wieder. Viele konnten ihre Geschäfte nicht weiterführen. Entweder wurden diese aufgelöst, von der Treuhand privatisiert oder von großen Westfirmen übernommen. Das führte dazu, dass gewisse Regionen wirtschaftlich chancenlos wurden, sich Frustration und Resignation breit machten und die Menschen dort für sich keinen anderen Ausweg sahen, als die Heimat zu verlassen. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass niemand heute wieder eine Mauer hochziehen oder die jahrzehntelangen Repressalien durch ein menschenverachtendes Regime wiederhaben will.

DOMRADIO.DE: In diesen Tagen ist immer wieder zu hören, dass die Spuren der Teilung bis heute in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sichtbar sind, das innere Zusammenwachsen immer noch ein Prozess ist und sich gerade in Ostdeutschland nicht wenige Menschen auf der Verliererseite sehen. Welche Aufgabe fällt da der Kirche zu?

Erzbischof Koch: Vor allem muss sie signalisieren, dass sie bei den Menschen bleibt – gerade auch auf dem Land, wo sich ohnehin viele oft vergessen fühlen. Wenn die Sparkasse und der Lebensmittelladen am Ort schließen, darf nicht auch noch die Kirchentür zugeschlagen werden. Daher halten wir soweit irgend möglich unsere Kirchen offen. Damit wollen wir auch zeigen: Wir stehen miteinander im Aufbruch, bleiben gerade auch an der Seite der Schwachen und Benachteiligten und sind für alle da.

DOMRADIO.DE: Wie sieht das konkret aus?

Erzbischof Koch: Wichtig ist, dass die Kirche Gemeinschaften bildet. Wir liegen an der Grenze zu Osteuropa, da kommen zum Beispiel viele Menschen aus dem Nachbarland Polen zu uns herüber. Hier sind wir dann in der Integrationsarbeit gefordert, die auch selbstverständlich von uns erwartet wird und die viel über Gemeinschaftsbildung läuft. Dann sind wir im Gespräch mit den Landesregierungen von Berlin, Brandenburg und Vorpommern über unsere katholischen Schulen und den Religionsunterricht. Vor allem aber müssen wir das Zeichen unseres Glaubens hochhalten und als Christen Zeugnis in die Gesellschaft hinein geben. Für viele hat Gott hier noch nie eine Bedeutung gehabt. Da beginnen wir bei Null und sind in einem weitgehend atheistisch geprägten Umfeld für viele zumindest ein lebendes Fragezeichen.

DOMRADIO.DE: Als Bischof von Dresden-Meißen haben Sie stärkende Erfahrungen mit Menschen gemacht, die sich in einer Diaspora-Situation nach Religiosität geradezu sehnten, aber auch hautnah das Erstarken der AfD erlebt und die wöchentlichen Pegida-Demonstrationen auf der Straße. Was bewegt Sie an einem Tag wie heute angesichts solcher Bilder von Fremdenhass, die sich in vielen Alltagssituationen auf subtile Weise wiederholen, eher noch zugenommen haben und nicht selten eine politische Errungenschaft wie die Wiedervereinigung überlagern?

Erzbischof Koch: In den neuen Bundesländern bin ich häufig dem Dogma begegnet: Es gibt keinen Gott und auch keine Auferstehung. Da hat die DDR-Erziehung in ihrer Breitenwirkung ganze Arbeit geleistet. Und dann hat mich doch immer wieder auch erstaunt, gerade wenn ich in Schulen kam, wie viel Interesse es da an den Grundzügen christlichen Glaubens gibt. Dass Menschen gegen die Tradition ihrer eigenen Familie oder den gesellschaftlichen Mainstream gläubig werden – das bewegt mich sehr. Und wer sich einmal bewusst entscheidet, bleibt auch dabei, steht zu seinem Glauben. Das war meine Erfahrung in Dresden, und das ist meine Erfahrung in Berlin. Was hier weitgehend fehlt, sind Gewohnheiten, Brauchtum. Traditionen. Das erschwert vieles. Trotzdem haben wir Martinszüge und Sternsinger-Aktionen und sogar – immerhin an einem ganz normalen Arbeitstag – eine Fronleichnamsprozession durch die Stadt, an der im vergangenen Jahr in den Abendstunden mehrere Tausend Menschen teilgenommen haben.

Und was die Ausschreitungen in Städten wie Dresden angeht, muss man sehen, dass die Menschen in der DDR nicht gewohnt waren, sich in Gruppierungen oder Interessensvertretungen politischer oder kirchlicher Art zu organisieren. Gerade ein politisches Bewusstsein musste sich erst allmählich wieder entfalten. Und die Ermutigung seitens der Politiker, raus auf die Straßen zu gehen und seine eigene Meinung zu sagen, wurde dann leider schnell rechtspopulistisch missbraucht. Das bis dato fehlende Selbstwertgefühl manifestierte sich dann in Protestbewegungen gegen das politische Establishment – mit furchtbaren Konsequenzen. Die Botschaft an den Westen lautete: Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir zu leben haben. Inhaltlich war das völlig indiskutabel. Trotzdem ist es gerade auch an Kirche, mit solchen Menschen in einen Austausch zu kommen und mit einer unmissverständlichen Wertehaltung auf sie zuzugehen.

DOMRADIO.DE: Konfessionslosigkeit ist in den ostdeutschen Bundesländern, von denen Teile zum Erzbistum Berlin zählen, der Normalfall. Religion spielt hier eine untergeordnete Rolle. Dabei waren nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Ostdeutschland 96 Prozent der Menschen Anhänger einer christlichen Konfession. Wie gehen Sie heute mit der vom SED-Regime forcierten Säkularisierung um – dem Erbe der Teilung Deutschlands – wenn Ihr Bistum nur wenig mehr als 400.000 Katholiken zählt?

Erzbischof Koch: Ich finde, dass das eine ganz beachtliche Zahl ist. Jedenfalls genug, um Gott in dieser Stadt und in diesem Bistum lebendig zu halten. Auch die 25 Schulen in katholischer Trägerschaft mit überwältigenden Anmeldezahlen sind ein großes Plus. Da gibt es einfach vieles, was Mut macht und Chancen eröffnet, auch eine erfrischende Ökumene und Austausch mit jüdischen und muslimischen Gemeinschaften. In der DDR stand die jeweilige Konfessionszugehörigkeit nicht im Vordergrund. Vielmehr verstanden sich in der Zeit vor der Wende Katholiken wie Protestanten als eine verbundene christliche Minderheit, die sich in einer atheistischen Umgebung behaupten musste. Und nicht zuletzt führen wir immer auch Gespräche mit denen, die an nichts glauben.

DOMRADIO.DE: Ertappen Sie sich manchmal dabei, dass Sie die pastorale Situation in Berlin mit der in Köln vergleichen?

Erzbischof Koch: Finanziell mag es große Unterschiede geben – wir sind ein Bistum mit begrenzten Möglichkeiten – aber was uns verbindet, ist die aktuelle Erfahrung – hier wie da – dass der Glaube nicht mehr selbstverständlich ist. Und es ist unsere aller Aufgabe, ihn immer wieder neu ins Gespräch zu bringen. Gehörte Katholischsein früher zur DNA des Rheinländers dazu, verliert diese Tatsache nun mehr und mehr an Selbstverständlichkeit. Bei uns im Osten Deutschlands ist es eher umgekehrt. Hier spielten Glaube und Kirche zur DDR-Zeit nie eine große Rolle. Nun aber bricht etwas auf, was an ein Wunder grenzt und was wir weiterentwickeln können. Wie gesagt, ein gutes Zeichen dafür ist das Fronleichnamsfest in Berlin, das hier kein staatlicher Feiertag ist. Trotzdem werden es von Jahr zu Jahr mehr Teilnehmer, darunter auch viele Kinder und Jugendliche. Gerade an einem solchen Tag, der für mich ganz wesentlich zum Jahresrhythmus dazu gehört, muss ich auch an Köln denken.

DOMRADIO.DE: Tagtäglich erleben Sie, wie sich die Botschaft des Evangeliums und diejenigen, die sie verkündigen, in einem weitgehend durch seine Geschichte geprägten Umfeld, in dem Gott, Kirchenbindung und Religiosität so gut wie kein Thema sind, bewähren müssen. Ist das nicht oft ein Kampf gegen Windmühlen? Und was macht Ihnen da Hoffnung?

Erzbischof Koch: Welches Ziel die antikirchliche Politik der DDR-Regierung in den letzten Jahrzehnten auch immer erreicht hat: Ich bin davon überzeugt, dass Gott da ist und immer da war. Mitten unter den Menschen. Auch wenn viele ihn vielleicht nicht im Blick haben. Aber Gott hat sich nie zurückgezogen. Es ist unsere Aufgabe, ihn zu entdecken. Wenn wir Ostern mehr als 100 Erwachsene taufen oder ich – wie in diesem Sommer – fünf junge Männer zu Priestern weihe – gegen jeden gesellschaftlichen Trend – dann macht mir das große Hoffnung. Schließlich ist es ungleich schwerer, seinen Glauben öffentlich zu bekennen, wenn man einer von nur wenigen ist. Ja, in solchen Momenten spüre ich deutlich: Gott ist da.

DOMRADIO.DE: Wie werden Sie persönlich diesen 30. Geburtstag der Deutschen Einheit feiern?

Erzbischof Koch: Gemeinsam mit Bischof Christian Stäblein feiern wir den ökumenischen Gottesdienst in der katholischen Propsteikirche St. Peter und Paul in Potsdam – an dem auch der Bundespräsident und die Kanzlerin teilnehmen. Denn Brandenburg richtet in diesem Jahr die Feierlichkeiten aus. Im Anschluss wird es noch einen Staatsakt geben mit einer deutlich kleineren Gästeliste als ursprünglich einmal geplant. Aber aus allen Bundesländern werden auch Delegationen von Bürgerinnen und Bürgern erwartet. Und dann freue ich mich auf die Ausstellung zu 30 Jahren Einheit in den Straßen von Potsdam, bei der ich mit möglichst vielen Menschen in Kontakt kommen will. Ich werde diesen Tag der Deutschen Einheit also sehr intensiv feiern – in großer Dankbarkeit und dem Bewusstsein, dass alles das nicht selbstverständlich ist.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

 


Deutschlandfahne / © Savvapanf Photo (shutterstock)
Quelle:
DR