Ein Selbstversuch: Zeitreise in spartanischer Unterkunft

Eremit für eine Nacht

Vor 1.400 Jahren lebte der heilige Ursicinus in einer Kalkhöhle hoch über Saint-Ursanne. Im Rahmen der Jubiläumsfeiern bietet das Schweizer Städtchen nun "14 Stunden als Eremit". Gregory Roth wagte das Experiment.

Autor/in:
Gregory Roth
Licht in einer Höhle. / © Sigit Adhi Wibowo  (shutterstock)
Licht in einer Höhle. / © Sigit Adhi Wibowo ( shutterstock )

Im Herzen der Altstadt von Saint-Ursanne empfängt Schwester Marie-Benoit abends den Einsiedler-Lehrling, der sich zur Übernachtung in der Klause angemeldet hat. Die Ordensfrau steht vor dem Südportal der Stiftskirche. "Ich bin diejenige, die Sie zur Einsiedelei bringen wird. Folgen Sie mir", sagt sie nach einer kurzen Begrüßung. 190 Stufen führen zur Grotte. Sie steigt zweimal täglich hinauf: abends und morgens, sagt Schwester Marie-Benoit. Der Anstieg ist relativ kurz, aber steil.

Und er lohnt sich: Oben angekommen, geht der Blick auf der einen Seite auf die mittelalterliche Altstadt, auf der anderen Seite zu jener Höhle, in der Ursicinus Anfang des 7. Jahrhundert mit seinem Bären gelebt haben soll. Über dem Grab des Mönchs - ein Gefährte des heiligen Kolumban - entstand ein Kloster, das heute säkularisiert ist.

Übernachtung in einer spartanischen Unterkunft

"Dies ist die Kapelle. Hier werden Sie übernachten", erklärt meine Begleiterin. Die Unterkunft ist spartanisch: kein fließendes Wasser, kein Strom, keine Heizung. Der Raum misst sechs Quadratmeter, die Einrichtung besteht aus einer Matratze und einem kleinen Schreibtisch. Es gibt auch Bücher über das Leben des Einsiedlers, das Seil, mit dem die Glocke der Kapelle geläutet werden kann, und ein Besucherbuch, in dem jeder seine Eindrücke niederschreiben darf. "Im Becken vor der Kapelle können Sie ein Feuer anmachen", erklärt die Ordensfrau im Ruhestand, bevor sie die 190 Stufen wieder hinabsteigt.

Bald setzt sich die Einsamkeit in meinem Bewusstsein fest. Nicht, dass ich davor Angst hätte. Aber sie schleicht sich in meine Gedanken. Ich habe diese Einsamkeit freiwillig gewählt. Während ich in mich gehe, fache ich im Becken vor der Tür ein Feuer an. Die Flammen, die in der einbrechenden Dunkelheit tanzen, beruhigen mein Gemüt. Ich sitze allein in einer Ecke, die Feuerstelle vor mir, und versetze mich abwechselnd in die Rolle des Wächters des Ortes, des Kaplans der Einsiedelei oder des Sakristans von Ursicinus. Niemand wird diese Ruhe stören: Der Aufstieg zur Höhle ist über Nacht verriegelt.

Nachts in der Höhle

In der Zwischenzeit ist es Nacht geworden. Zum schwachen Glühen, das immer noch durch die zaghafte Glut meines Feuers verursacht wird, kommt das Funkeln des wachsenden Mondes hinzu.

Die Bilder meiner Lieben defilieren an mir vorbei. Seltsamerweise scheinen mir einige dieser Abwesenden jetzt näher zu stehen als in der Wirklichkeit. Das Gästebuch lädt die kurzzeitigen Emeriten dazu ein, Eindrücke über ihre durchlebte Einsamkeit niederzuschreiben. Ich sehe mich als freudigen Eremiten.

Plötzlich läuft ein leichter Schauder über meinen Körper. In der Entfernung von etwa zehn Metern höre ich ein Geräusch, leichte Schritte, begleitet von schwachen, heiseren Schreien. Es muss sich um ein Tier handeln. Zu dieser späten Stunde pocht die Natur auf ihre Rechte. Sie lebt auf. Ich stelle fest: Es ist höchste Zeit, dass ich mich in die Kapelle zurückziehe.

Meine Gedanken kehren zu Ursicinus zurück. Warum hat er diesen Ort gewählt? Warum bin ich heute Abend hier? Ich blicke auf mein Leben zurück, mit seinen Höhen und Tiefen. Seltsamerweise sind es vor allem schöne Momente, an die ich mich erinnere. Meine Augenlider werden schwerer. Ich schlafe ein mit dem Gedanken: Das Leben ist schön, ich bin froh, das zu haben, was ich habe.

Der nächste Morgen

Am Morgen, Punkt 9.00 Uhr, taucht Schwester Marie-Benoit wieder auf, um mich aus meinem Einsiedlerdasein zu befreien. Sie beginnt mit dem Aufräumen und Desinfizieren der Kapelle und entlässt mich gleichzeitig. Ich steige allein die Treppe hinab, zurück in die Zivilisation.

Wenn ich die anderen wiedersehe, werden sie sich sicher nicht verändert haben. Ich frage mich: Wird mich die eine Nacht in der Haut eines Einsiedlers zu einem neuen Menschen gemacht haben? Wird diese Erfahrung der Einsamkeit dazu führen, dass ich den anderen so nahe sein kann, wie ich es in der Einsamkeit gewünscht habe? Auf jeden Fall hat mich die Übernachtung in der Einsiedelei nicht gleichgültig gelassen. Und sehr wahrscheinlich wird Schwester Marie-Benoit von allen Einsiedlern, deren Zeugnis sie erhalten hat, dasselbe sagen können.


Quelle:
KNA