DOMRADIO.DE: Wie ernst nimmt denn die Evangelische Kirche das Thema sexualisierte Gewalt inzwischen? Ist es ein echter Kulturwandel oder eher öffentlichkeitswirksame Symbolik?
Benjamin Lassiwe (Journalist und evangelischer Kirchenexperte): Zunächst einmal muss man sagen, dass die sexualisierte Gewalt, der sexuelle Missbrauch in der Evangelischen Kirche seit mehreren Jahren ein fester Tagesordnungspunkt der EKD-Synode geworden ist.
Was wir heute mit dem Bericht aus dem Beteiligungsforum und auch dem Bericht von Betroffenenvertretern erlebt haben, gibt es bei der Synode mittlerweile jedes Jahr.
Man registriert aber auch ein – vorsichtig formuliert – Desinteresse der Synodalen. Es gibt auf einer Synode durchaus lebhafte Debatten im Plenum, wobei sich Leute melden und Themen anprangern und sich teilweise über die Dinge, die in der Kirche geregelt werden müssen, zerstreiten. Aber eben nicht beim Missbrauch.
Heute waren es etwa sechs Wortmeldungen nach jedem dieser Berichte. Die meisten begannen mit einem Dank an die Vertreter des Beteiligungsforums. Aber es ist relativ wenig Sacharbeit spürbar.
Das kann daran liegen, dass die Vertreter anschließend auch in den Sitzungen der synodalen Ausschüsse sitzen. Wenn man jetzt fragt, was denn tatsächlich erreicht worden ist, dann wird man sagen müssen, dass in den meisten Bundesländern die unabhängigen regionalen Aufarbeitungskommissionen ihre Arbeit aufnehmen oder aufgenommen haben.
Dann wird man auch sagen müssen, dass man über eine Anerkennungsrichtlinie spricht, die vermutlich zum 1. Januar 2026 flächendeckend in Kraft treten wird.
DOMRADIO.DE: Wie groß ist denn der Druck von außen, etwa durch Betroffene, durch Medien, durch die Gesellschaft?
Lassiwe: Der Druck ist nach wie vor da, er ist aber schwächer geworden. Das Thema Missbrauch in den Kirchen ist seit der MHG-Studie in der Kirche nicht mehr so explodiert, wie es früher war. Mein Eindruck ist, dass es mehr zu einem Arbeitsthema geworden ist. Es ist ein Thema geworden, an dem man dran ist. Es ist ein Thema geworden, worüber es fachliche Debatten gibt, zum Beispiel wie hoch die Höhe der Beträge für die Anerkennungsleistungen sein wird. Aber es ist kein Thema mehr, das die Öffentlichkeit noch so mitreißt, wie das vor drei, vier, fünf Jahren gewesen wäre.
DOMRADIO.DE: Wo sind denn die größten Baustellen geblieben?
Lassiwe: Also die Baustellen liegen in den Details. Es gibt zum Beispiel in diesen unabhängigen regionalen Kommissionen Vertreter der Kirchen, der Betroffenen und der Länder. Zum einen hat es in einer ganzen Reihe von Landeskirchen gedauert, bis man Betroffenen-Beteiligung hergestellt hatte, zum anderen haben wir zum Beispiel das Land Niedersachsen, wo die die Vertreter des Landes nicht für die URAK (Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission) nominiert worden sind.
Da hatte man zunächst zwei Kandidaten im Blick, die wurden dann aber von den Betroffenen wegen einer angeblich zu großen Nähe zur Kirche abgelehnt. Und jetzt haben die Landesregierung und der Landtag in Niedersachsen offensichtlich keine Eile, Ersatzvertreter zu bestimmen. Das macht die Arbeit der Kommission dann natürlich auch schwierig, denn sie kann vorläufig nicht starten.
Das Interview führte Dagmar Peters.