EKD-Ratsvorsitzender warnt vor Rückfall in Kalten Krieg

"Wir erleben im Moment eine prekäre Situation"

Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider warnt angesichts der Ukraine-Krise vor einem Rückfall in den Kalten Krieg. Zugleich äußert er "bei größtem Bauchgrimmen" Verständnis für Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak.

Nikolaus Schneider (dpa)
Nikolaus Schneider / ( dpa )

epd: Bundespräsident Gauck hat sich bei den Feierlichkeiten zum Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs deutlich zum Ukraine-Konflikt geäußert und eine geschlossene Reaktion der EU gegenüber Russland gefordert. Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft sollten den neuen Umständen angepasst werden. Teilen Sie die Einschätzung?

Nikolaus Schneider: Wir erleben im Moment eine prekäre Situation. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hatten wir gehofft, dass die Blöcke, die gegeneinanderstanden, aufgelöst werden könnten und dass es eine Friedensdividende gibt. Es gab gute Fortschritte und Abkommen zwischen der Nato und Russland. Im Augenblick steht dieses Konzept infrage.

epd: Was sollte der Westen tun?

Nikolaus Schneider: Die Herausforderung besteht darin, dass die westlichen Länder in EU und Nato eine feste Haltung einnehmen, aber dass wir die Gesprächsmöglichkeiten nicht zerstören. Ich habe Sorge, dass wir sonst auf einen Weg abgleiten, der zu einem neuen Kalten Krieg führt.

epd: Beim Nato-Gipfel in Wales stand die zeitweise Stationierung von Nato-Truppen in den osteuropäischen Ländern auf der Tagesordnung. Auch Bundeswehrsoldaten müssten dann für mehrere Monate im Baltikum oder in Polen Dienst leisten. Ist das ein richtiger Schritt?

Nikolaus Schneider: Es gibt Vereinbarungen zwischen Russland und der Nato zu Truppenpräsenzen. Ich würde es begrüßen, wenn man sich im Rahmen dieser Vereinbarungen bewegen würde. Eine Demonstration überlegener Macht und Stärke gegenüber Russland sollte vermieden werden - gerade, wenn deutsche Soldaten beteiligt sind.

epd: Welche Rolle spielt beim aktuellen Ukraine-Konflikt die deutsche Geschichte?

Nikolaus Schneider: Wir dürfen nicht vergessen: Die Kriegslasten und die Kriegsopfer der Sowjetunion sind unglaublich. Was da an Vernichtung verübt wurde durch die deutsche Wehrmacht, das muss immer bewusst sein. Der Überfall auf Polen war der Beginn eines furchtbaren Mordens. Er war möglich, weil es den Hitler-Stalin-Pakt gab. Der Pakt war von Hitler nie als ernster und dauerhafter Pakt gemeint, sondern zur Beruhigung der Sowjetunion - um diese danach zu überfallen.

epd: Wie beurteilen Sie die Pläne für ein Manöver in der Ukraine mit Nato-Beteiligung?

Nikolaus Schneider: Es muss klar sein, dass der Boden der gemeinsamen Vereinbarungen nicht verlassen, aber bis an den Rand seiner Möglichkeiten gegangen wird. Es muss mit Festigkeit signalisiert werden, dass Russland nicht weiter gehen kann. Ich teile die Analyse, dass der Hunger auf mehr Land nur geweckt wird, wenn man Annexionen einfach hinnimmt.

epd: Der Bundespräsident hat nach seinen Äußerungen in Danzig starke Kritik einstecken müssen. Der Chef der Linken, Bernd Riexinger, wirft Gauck vor, Öl ins Feuer zu gießen.

Nikolaus Schneider: Ein Bundespräsident, der Stellung bezieht wie Joachim Gauck, muss sich dann auch dieser Kritik stellen. Diese Debatte ist einfach notwendig in unserem Land.

epd: Die letzte Friedensdenkschrift der EKD entstand 2007 in einer anderen Zeit: Russland war auf dem Kurs der Annäherung an den Westen. Und die Formen asymmetrischer Kriegsführung, die wir am drastischsten durch die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) erleben, waren noch nicht denkbar. Trägt die Denkschrift von 2007 noch, um die aktuelle Lage einzuordnen? Oder muss die EKD ihre Grundsätze überdenken, um auf die neuen Situationen antworten zu können?

Nikolaus Schneider: Die Voraussetzungen, die in der EKD-Denkschrift definiert sind, um nun auch militärisch einzugreifen, sind auch für das Verhalten der IS anwendbar. Wir können Menschenrechtsverletzungen feststellen. Die Androhung von Völkermord können wir ebenfalls feststellen. Auch das Zusammenbrechen einer Rechtsordnung können wir feststellen. Wir sind daher nach wie vor sehr gut gerüstet, um Antworten zu geben auf die Herausforderungen der augenblicklichen Zeit.

epd: Der Weltkirchenrat hat in seiner Gründungscharta 1948 festgestellt: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte dies über Jahre auch das Friedensengagement der Kirchen. Heute hört man zu den aktuellen Konflikten etwa im Irak und in der Ukraine aus der Genfer Ökumene-Zentrale sehr wenig. Warum?

Nikolaus Schneider: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein - dieser Satz bleibt gültig. Und wenn es Krieg gibt, ist es ein Versagen und ein Scheitern. Das muss deutlich bleiben. Die Genfer Ökumene hat allerdings ganz viele Partnerkirchen und muss Äußerungen abstimmen. Dennoch äußert sich Genf sehr deutlich dazu, was sein soll und was nicht sein soll. Auch zu den Verbrechen der IS nimmt Genf sehr deutlich Stellung. Außerdem ist Genf sehr aktiv darin, Informationen vor Ort aus erster Hand einzuholen und die Mitgliedskirchen damit zu versorgen. Aber es ist richtig, dass der Weltkirchenrat in öffentlichen Äußerungen derzeit nicht so laut ist.

epd: Gibt es Gespräche zwischen der EKD und der russisch-orthodoxen Kirche zum Ukraine-Konflikt?

Nikolaus Schneider: Der Gesprächskontakt ist nicht abgerissen. Und auch auf der Ebene des Weltkirchenrats werden die Gespräche gerade mit der russisch-orthodoxen Kirche intensiv angebahnt und gepflegt. In diesem Rahmen wird sich auch die EKD an solchen Gesprächen beteiligen.

epd: Der deutsche Beschluss, Waffen an kurdische Kämpfer im Irak zu liefern, weckt Begehrlichkeiten - auch in der Ukraine. Haben Bundesregierung und Bundestag die Büchse der Pandora geöffnet?

Nikolaus Schneider: Zumindest wird an der Büchse der Pandora im Augenblick herumgeschraubt. Der Beschluss ist ganz schwierig. Meine favorisierte Lösung für den Nordirak und Syrien wäre ein Beschluss des Weltsicherheitsrates zur Entsendung internationaler Truppen und zur Errichtung einer Sicherheitszone, die aktiv verteidigt wird. Offensichtlich ist der Sicherheitsrat im Augenblick aber dazu nicht in der Lage.

epd: Aber ist dann die Lieferung von Waffen der richtige Weg?

Nikolaus Schneider: Wenn man jetzt Waffen liefert, hat man sie aus der Hand gegeben und man weiß nicht, was mit ihnen geschieht. Das ist keine Frage. Für mich ist die Mindestbedingung, dass die Lieferungen über die Zentralregierung in Bagdad abgewickelt werden und man nicht eine Partei innerhalb des Irak aufrüstet. Andererseits sind aber die Peschmerga im Augenblick die einzigen, die in der Lage sind, die von Völkermord und dem furchtbaren Wüten der IS bedrohten Menschen ein gewisses Maß an Sicherheit zu geben. Soll man das nun unterstützen oder nicht? Beides ist mit Schuld beladen. Man wird nicht sagen können, was der Königsweg ist. Vor diesem Hintergrund habe ich bei größtem Bauchgrimmen Verständnis dafür, wenn dorthin Waffen geliefert werden.

epd: Die Situation erscheint bizarr: Während die Kurden im Irak Waffen erhalten, muss die Ukraine lange auf eine Ausfuhrgenehmigung für Schutzwesten warten und erhält gerade noch ein paar Feldküchen dazu.

Nikolaus Schneider: Im Irak droht Völkermord und Ausrottung. Das ist ein deutlicher Unterschied zur Situation in der Ukraine. Wir sollten nicht in einen Wettlauf eintreten, wohin wir nun Waffen liefern können. Dass wir uns damit schwer tun, ist ein gutes Zeichen. Und auch Bundestag und Bundesregierung haben sich außerordentlich schwer getan.

epd: Nach den friedensethischen Grundsätzen der EKD ist Gewalt nur als ultima ratio denkbar. Sind in Bezug auf den Nordirak alle diplomatischen Bemühungen schon ausgeschöpft?

Nikolaus Schneider: Das kann ich schlecht beurteilen. Aber es ist nicht hinnehmbar, dass die IS Finanzierungsmöglichkeiten aus Saudi-Arabien oder aus Katar hat oder aus dem Verkauf von Öl. Da muss man massiv ansetzen, um die Möglichkeit der IS einzuschränken, Waffen und Kämpfer zu bezahlen.

epd: Wieso ist die IS für einige junge deutsche Muslime attraktiv?

Schneider: Wir müssen uns fragen, wie wir mit Menschen muslimischen Glaubens in unserem Land umgehen. Welche Zukunftsmöglichkeiten haben sie in unserem Land? Auch wir haben Hausaufgaben zu machen, wenn es um Religionsfreiheit in unserem Land geht. Es ist für mich erschreckend, dass Moscheen in Deutschland angezündet werden. Hier sind wir gefordert, deutlich dagegen Stellung zu beziehen. Es ist ebenso erschreckend, dass Jüdinnen und Juden verstärkt Angst haben und sich in unserem Land nicht mehr so sicher fühlen wie noch vor einigen Jahren. Diese Entwicklungen sehe ich mit großer Sorge.

epd: Welche Antwort können die Kirchen geben?

Nikolaus Schneider: Die Vertreter der großen Glaubensgemeinschaften in Deutschland - der großen christlichen Kirchen, der Muslime, der Juden - müssen deutlich machen, dass unsere Religionen Frieden wollen. Wir wissen, dass die Religionen und der ihnen innewohnende Wahrheitsanspruch missbraucht werden können, um Hass zu begründen. Dann ist es nur noch ein kurzer Schritt, anderen das Lebensrecht abzusprechen. Ich bin froh, dass wir mit allen Verantwortlichen in Deutschland einig sind und auch die Vertreter des Zentralrats der Muslime Stellung beziehen.

epd: Aber der Zentralrat erreicht wohl nicht mehr die jungen Männer, die in den Krieg ziehen. Schneider: Offensichtlich erreicht er sie nicht, sonst würden sie nicht reisen. Es gibt in unserem Land junge Leute, die aus einer Frustration und Perspektivlosigkeit radikalisieren lassen. Dagegen müssen wir etwas tun. Und wir können Hassprediger und Menschen, die Kämpfer rekrutieren, nicht einfach gewähren lassen. Das ist eine Aufgabe für die Polizei.

Das Interview führte Thomas Schiller.


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