EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider zur Woche der Brüderlichkeit

"Christlich-jüdisches Verhältnis ist belastbar"

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Nikolaus Schneider, bezeichnet die Beziehung zwischen Christentum und Judentum als belastbar. Nach der NS-Zeit hätten die evangelischen Christen das christlich-jüdische Verhältnis neu bestimmt. Verbindende Gemeinsamkeiten könnten betont werden, ohne Trennendes zu ignorieren, sagt Schneider vor dem Auftakt der diesjährigen "Woche der Brüderlichkeit".

 (DR)

epd: Die rheinische Kirche gehört mit dem Synodalbeschluss von 1980 zum Verhältnis von Christen und Juden zu den Vorreitern unter den evangelischen Landeskirchen. Was ist das Wegweisende an dieser Erklärung?

Nikolaus Schneider: Im Grunde ging es um zwei Dinge: Erstens um die Einsicht, dass die Bibel von der bleibenden Erwählung des Volkes Israel spricht. Und daraus folgt zweitens die Frage nach unserem Verhältnis zu diesem Volk Israel und zu den Verheißungen, die Gott seinem Volk gegeben hat. Darüber sagt der Synodenbeschluss, dass wir durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen sind.



Im Mittelpunkt des Synodalbeschlusses steht daher das Bekenntnis: "Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Volk Gottes und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund mit seinem Volk hineingenommen ist." Chana Safrai, eine der jüdischen Dialogpartner, hat damals drei Punkte genannt, die aus ihrer Sicht wegweisend an diesem Wendepunkt christlicher Theologie waren: Jude sein ist aus Sicht der Kirche nicht länger als defizitär abzuqualifizieren. Juden müssen daher aus Sicht der Kirche keine Christen mehr werden. Auf dieser Basis beginnt ein neues Vertrauensverhältnis zu wachsen.



epd: Auch unter evangelischen Christen gibt es Stimmen, die in Frage stellen, dass die Gründung des Staates Israel als jüdischer Staat ein Zeichen der Treue Gottes ist. Sind die Beziehungen der evangelischen Kirche zur jüdischen Gemeinschaft belastbar?

Schneider: Der Staat Israel ist für uns ein säkularer Staat. Die rheinische Kirche verwendet vor diesem Hintergrund die Bezeichnung "Zeichen der Treue Gottes" auch kritisch: Wenn wir die Staatsgründung Israels als ein Zeichen interpretieren, widersprechen wir damit den so genannten christlichen Zionisten, die die Staatsgründung als Anbruch der neuen Welt Gottes empfinden. Geschichte ist für uns keine Offenbarung. Dennoch können wir Geschichte theologisch interpretieren und darin Gottes Handeln wahrnehmen. Auch innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland gibt es vielfältige und durchaus uneinheitliche Haltungen zum Staat Israel.



Von der Beziehung zum Staat Israel ist die zum Judentum noch einmal zu unterscheiden. Die Beziehung zwischen Christentum und Judentum in Deutschland ist belastbar, weil die evangelischen Kirchen nach der NS-Zeit dieses Verhältnis neu durchdacht und bestimmt haben. Dabei sind wir dankbar und froh, dass die jüdische Seite mit ihrer Gesprächsbereitschaft uns diesen theologischen Neuansatz ermöglicht hat.



Heute ist das Wissen um unsere bleibenden Wurzeln im Judentum fester Bestandteil evangelischer Theologie. In theologischer Nachbarschaft gilt es verbindende Gemeinsamkeiten zu betonen, ohne Trennendes zu ignorieren. Ein christlich-jüdisches Grundvertrauen existiert, es muss aber immer wieder gepflegt und gefestigt werden.



epd: Kritik an der israelischen Politik ist nach Ihren Worten möglich und notwendig. Was sind Ihre Kritikpunkte? Und wo sehen Sie Grenzen für die Kritik?

Schneider: Die Geschichte hat zu einem säkularen Staat Israel geführt, und für seine Existenz gibt es eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage. Keinem säkularen Staat sollte man kritiklos begegnen - auch Israel nicht. Die Grenzen der Kritik sind erreicht, wenn das Existenzrecht eines Staates grundsätzlich in Frage gestellt wird oder im Falle Israels die Kritik gar in antisemitischer Weise erfolgt.



Aber Anlass zur Kritik gibt es durchaus. Ich denke beispielsweise an den völkerrechtlich illegalen Siedlungsbau oder an die Beschneidung von Menschen- und Bürgerrechten - dies ist deutlich zu kritisieren, ebenso wie Terror und Gewalt von palästinensischer Seite. Natürlich sehen wir zurzeit mit großer Sorge die drohende Kriegsgefahr, die unter anderem von der Politik des Iran ausgeht. Aber auch die Haltung der israelischen Regierung ist nicht unproblematisch. Ich appelliere an alle Beteiligten, alle Mittel auszuschöpfen, um eine militärische Eskalation zu verhindern.



Das Interview führte Rainer Clos.



Hintergrund

Seit 60 Jahren beteiligen sich die Kirchen und die jüdische Gemeinschaft an der jährlichen "Woche der Brüderlichkeit", die diesmal am Sonntag in Leipzig eröffnet wird. Sie richtet sich gegen weltanschaulichen Fanatismus und religiöse Intoleranz und wird von den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Deutschland organisiert. In allen Teilen des Landes werden aus diesem Anlass Veranstaltungen durchgeführt, um auf die Zielsetzung der Gesellschaften und auf ihr jeweiliges Jahresthema hinzuweisen. Das Jahresthema 2012 ist: "In Verantwortung für den Anderen - 60 Jahre Woche der Brüderlichkeit".



Der Deutsche Koordinierungsrat vertritt als bundesweiter Dachverband die mehr als 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland auf nationaler und internationaler Ebene. Er ist größtes Einzelmitglied im Internationalen Rat der Christen und Juden (ICCJ), in dem 32 nationale Vereinigungen für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vertreten sind.



Seit 1968 verleiht der Deutsche Koordinierungsrat der 83 Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit während der Eröffnungsfeier zur Woche der Brüderlichkeit die Buber-Rosenzweig-Medaille. Ausgezeichnet werden Personen, Institutionen oder Initiativen, die sich insbesondere um die Verständigung zwischen Christen und Juden verdient gemacht haben. Die Medaille wird in Erinnerung an die jüdischen Philosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig verliehen.