Sozialethiker Nass über neue Papst-Enzyklika

"Eine große Vision"

Auf Minderheiten zugehen, nicht überheblich sein, gemeinsame Lösungen finden: Die neue Enzyklika von Papst Franziskus gilt mit gutem Grund als "Sozialenzyklika", meint Sozialethiker Elmar Nass. Welche Visionen für die Zukunft hat er entdeckt?

Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika "Fratelli tutti" am 3. Oktober 2020 / © Romano Siciliani (VN)
Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika "Fratelli tutti" am 3. Oktober 2020 / © Romano Siciliani ( VN )

DOMRADIO.DE: Wie ist denn Ihr ganz persönlicher Eindruck von der Enzyklika?

Prof. Dr. Elmar Nass (Professor für Wirtschafts- und Sozialethik an der Wilhelm Löhe Hochschule Fürth): Im Großen und Ganzen ist das eine große Vision, die der Papst hier entfaltet. Er spricht am Anfang und auch mehrfach im Text der Enzyklika von einem großen Traum, den er hier vorstellt und entwirft. Es ist eine ganz neue Perspektive, denn die Grundlage seiner Enzyklika ist auch eine Begegnung und ein Gespräch mit dem Großimam von Kairo.

Das heißt, auch interreligiöse Aspekte spielen hier eine Rolle. Der Papst versucht hier, die ganz großen Probleme zusammenzuführen und einen Lösungsansatz, eine Vision für die ganze Welt zu entwerfen. Das gilt nicht nur für die Kirche, für die Christenheit, sondern für die ganze Welt. Dabei setzt er vor allen Dingen auf die Tugend der Menschen, auf eine neue Moral der Menschen, aus der sich dann eine neue Ordnung ergibt. Er schaut nicht zuerst auf Regeln und Institutionen, sondern zuerst auf die Tugend, die Moral.

Aus der soll sich dann eine neue Weltordnung ergeben. Er benennt viele Probleme, die er auch in anderen Enzykliken schon genannt hat. Er träumt dann davon, dass am Ende auch so etwas wie eine Weltordnung, eine Weltregierung, die sich aus verschiedenen Religionen zusammensetzt, besteht. Das ist die große visionäre Vorstellung, ein Ziel, auf das es sich lohnt hin zu arbeiten. Wir sollten nicht heute hierhin und morgen dorthin schauen, wir sollen nicht das Blatt im Wind sein. Die Enzyklika zeigt eine langfristige Perspektive, ein langfristiges Ziel.

DOMRADIO.DE: Sehr ungewöhnlich ist, dass sich ein Papst in seiner Enzyklika gleich mehrmals auf einen muslimischen Geistlichen beruft. Was will Franziskus damit bezwecken?

Nass: Ich denke, er zeigt auf, dass die christliche Botschaft alle Menschen anspricht, und dass es wesentliche Inhalte darin gibt, die wir mit den Muslimen teilen. Ganz interessant finde ich, dass er betont, dass bei der Idee einer Weltregierung geschaut werden muss, dass diese von maßgeblichen Vertretern unterschiedlicher Religionen bestückt sein muss.

Hier baut er eine wichtige Brücke in diese Richtung, damit die Vision Wirklichkeit werden kann. Nicht nur wir als Christen mit unserer westlichen Idee sind überlegen und die anderen müssen das übernehmen, was wir als beste Ordnung erkannt haben, das liest man immer wieder heraus, sondern der ehrliche Dialog mit Andersdenkenden, mit anderen Religionen steht im Vordergrund und ist bereichernd.

Und das ist ein Beispiel wie es gehen kann: Nicht einer hat den Stein der Weisen, und alle anderen müssen folgen, sondern es ist eine Enzyklika des Dialogs, des ehrlichen Zuhörens. Man soll aufeinander hören, Argumente hören, der anderen Perspektive zuhören und dann am Ende gemeinsam eine Wahrheitsidee finden - das ist, glaube ich, ein ganz zentraler Punkt von Papst Franziskus.

DOMRADIO.DE: Sie haben uns im Vorfeld gesagt, Franziskus würde in der Enzyklika wieder vermehrt vom Naturrecht her argumentieren. Erklären Sie kurz: Was ist denn das Naturrecht und wie verwendet es Franziskus?

Nass: Hinter dem Naturrecht steht eine Idee von Natur, die weniger mit der Umwelt zu tun hat, sondern eigentlich die klassische Begründungsidee der katholischen Tradition ist, auf die auch Papst Benedikt XVI. in seiner Rede im Bundestag zurückgegriffen hat. Dahinter steht die Idee, dass es eine Natur des Menschen gibt, aus der sich automatisch bestimmte Werte, Prinzipien und unbedingte Rechte ergeben. Die unbedingte Menschenwürde wird darin begründet, dass der Mensch, christlich gesagt, von Natur aus Gottes Ebenbild ist und aus dieser Gottesebenbildlichkeit zum Wesen des Menschen gehört.

Daraus leiten sich bestimmte Rechte ab, gerade für die Schwachen. Das betont Franziskus für die alten Menschen, für die armen Menschen, für die ungeborenen Menschen. Das betont er immer wieder, und hier sehe ich in der Enzyklika eine gewisse Wendung. In seiner vorhergehenden Enzyklika "Laudato si" hat er sich noch nicht so ausdrücklich auf das Naturrecht bezogen.

Aber hier macht er es wieder stark, und das ist eine Alternative zu allen Vorstellungen, die meinen, Werte werden immer im Diskurs oder im Konsens entworfen. Da stellt sich Franziskus ganz eindeutig dagegen. Er wendet sich in der Enzyklika deutlich dagegen, dass wir auf einen oberflächlichen Konsens setzen, sondern es muss bestimmte Werte geben: Die sind universal, die sind objektiv, die sind immer gültig. Dieser Würdebegriff wird hier ganz stark gemacht und soll den Menschen und die Menschheit vor allen möglichen Relativierungen schützen. Das ist, finde ich, eine neue Wendung in der Theologie von Papst Franziskus.

DOMRADIO.DE: Auffällig ist, dass Franziskus sich gegen jede Art von Gleichmacherei oder Universalismus ausspricht und - abgesehen vom Naturrecht - stattdessen Dialog, Solidarität und eine globale Ethik betont. Wie begründet er das?

Nass: Es sind zwei Seiten einer Medaille. Auf der einen Seite betont er diese Objektivität, diese unbedingte Würde. Das ist der Kern, auf den sich die Menschen, gerade auch gemeinsam mit Muslimen, einigen können.

Wenn man das Fundament auf der einen Seite hat, muss dann davon ausgehend weiter überlegt werden: Wie können wir das denn konkret leben? Welche konkreten Gesellschaftsformen können sich daraus zum Beispiel ergeben, welche konkreten Gesetze können sich daraus ergeben? Und da sagt Franziskus, das ist die dialogische Seite mit Blick auf indigene Völker, auf Kulturen, die zurückgedrängt werden.

Aber das gilt, glaube ich, auch für uns als westliche Kulturen. Wir sollten nicht zu überheblich sein und meinen, da ist eine Leitidee, und der müssen alle folgen, sondern man sollte sich auch die Minderheitenmeinungen anhören. Von denen können wir etwas lernen. Die haben vielleicht auch eine neue Sicht. Die bekennen sich auch zur unbedingten Würde, haben aber vielleicht neue Nuancen in ihrer Kultur. Und er sagt: Davon müssen wir uns bereichern lassen. Wir dürfen und müssen die Schätze dieser unterschiedlichen Kulturen wertschätzen, zuhören. Das ist, meiner Meinung nach, ein klarer Appell.

Das gilt auch für unsere deutsche Gesellschaft: gegen vorgefertigte Meinungen, die von irgendeiner Avantgarde vorgegeben werden, sondern wir müssen Minderheiten hören, mit denen in den Dialog kommen und dann gemeinsame Lösungen finden. Das, finde ich, ist ein ganz starkes Plädoyer für eine Vielfalt, die doch auf einem gemeinsamen Fundament aufbaut.

DOMRADIO.DE: Die Enzyklika wird in einer Zeit veröffentlicht, in der die Corona-Pandemie die Welt fest im Griff hat. Limburgs Bischof Bätzing hat aber gesagt, es sei jetzt keine Corona-Enzyklika. Aber: Wie greift denn der Papst diese Pandemie in seinem Schreiben auf?

Nass: Da stimme ich Bischof Bätzing zu. Es ist keine Corona-Enzyklika. Das Corona-Thema wird als ein Beispiel genommen. Der Papst spricht ja im Grunde von den großen Herausforderungen, die die Menschheit hat, entwickelt diese Vision und benennt einige große Probleme. Die dunklen Seiten der Menschheit zum Beispiel, um uns die Augen zu öffnen, dass wir etwas lernen, dass wir endlich aufwachen und eine neue Welt schaffen. Das ist auch ein starkes Plädoyer für die Politik und Kritik an der Wirtschaft.

Die Corona-Pandemie ist ein Beispiel. Franziskus sagt, auch daraus müssen wir als Menschen lernen, dass wir nicht auf die Überheblichkeit des Menschen setzen. Mit der menschlichen Vernunft wird sich alles schon irgendwie regeln. Am Ende haben wir Medikamente gefunden, und dann ist alles so wie vorher. Der Papst sagt: Nein. Wir müssen auch damit leben, dass die Pandemie uns aufgezeigt hat, dass unsere menschliche Vernunft begrenzt ist. Wir müssen gegebenenfalls auch in Zukunft mit gewissen Einschränkungen leben. Das reine Vertrauen auf Wissenschaft, Naturwissenschaft oder Politik ist zu wenig. Es gibt immer noch etwas mehr. Es ist ein Aufruf zur Bescheidenheit.

Auf der anderen Seite lese ich ganz klar an mehreren Stellen, dass der Papst eindeutig für eine klare Abkehr vom Utilitarismus plädiert. Das ist eine Lehre, die das Nutzendenken sehr stark in den Vordergrund stellt. Und da sagt der Papst: Das ist jetzt auch in der Corona-Krise sehr stark in den Vordergrund gestellt worden, etwa bei Rationierungen von Beatmungsgeräten in Italien, wo alte Menschen diskriminiert wurden und für junge Menschen geopfert wurden. Franziskus sagt, da müsse man lernen. Das darf nicht wieder passieren. Einer solchen Logik, die wir hier in der Corona-Krise erlebt haben, dürfen wir nicht folgen. Das führt uns letztlich in die Inhumanität.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.


Prof. Elmar Nass / © privat
Prof. Elmar Nass / © privat
Quelle:
DR