Kardinal Hollerich kritisiert EU-Flüchtlingspolitik

"Ein Versagen des Christentums"

Im vergangenen Jahr waren 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht - so viele wie noch nie. Kardinal Hollerich, Vorsitzender der Europäischen Bischofskonferenz, wirft der EU vor, eine unmenschliche Flüchtlingspolitik zu betreiben.

Geflüchtete treiben in einem Boot auf dem Mittelmeer / © Bruno Thevenin (dpa)
Geflüchtete treiben in einem Boot auf dem Mittelmeer / © Bruno Thevenin ( dpa )

DOMRADIO.DE: Es müssten Lösungen in den Heimatländern der Flüchtenden gefunden werden, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, im Vorfeld des heutigen Weltflüchtlingstages. Aber in der Zwischenzeit, da sei Solidarität gefragt. Die Welt sei in der Lage, den Menschen zu helfen. Mauern zu errichten oder Boote auf hoher See zurückzuschicken, das löse die Probleme nicht. Muss man der Europäischen Union und den verantwortlichen Institutionen in Brüssel im Umkehrschluss dann nicht sogar mindestens unterlassene Hilfeleistung vorwerfen?

Kardinal Jean-Claude Hollerich (Vorsitzender der Europäischen Bischofskonferenz): Ich glaube, das könnte man fast so sagen, weil die Leute werden zurückgedrängt. Ich habe Informationen bekommen, dass Leute nach Lybien zurückgebracht worden sind. Dort aus dem Gefängnis geflohen und dann auf der Flucht erschossen worden sind. Man bringt die Leute in menschenunwürdige Zustände zurück. Wenn man daneben dann immer noch einen Diskurs über die Werte der Europäischen Union führt, dann ist das schon sehr sarkastisch.

DOMRADIO.DE: Jetzt können wir uns alle nicht aus der Verantwortung ziehen. Aber diejenigen, die Frontex da bezahlen und beauftragen, die EU-Außengrenzen zu schützen, die sind ja nun mal bekannt. Also wir haben auch eine EU-Kommission und wir haben ein Europäisches Parlament. Und Sie sind ja als Vorsitzender der EU-Bischofskonferenz auch im Austausch mit denen. Wie schwer fällt Ihnen das, mit diesen Leuten noch in Kontakt zu treten und mit ihnen zu diskutieren?

Hollerich: Das fällt mir schon sehr schwer. Wenn ich mit manchen Leuten in der EU spreche, manche Kommissare auch. Es wird ein Vokabular gebraucht, was an sich abstoßend ist. Man spricht nicht mehr von Flüchtlingen, Asylsuchenden, sondern von kriminellen Eindringlingen und so weiter. Dieses Vokabular macht mir sehr viel Sorgen. Wir kennen das aus der Nazizeit, in der auch durch Worte die Menschen entmenschlicht worden sind. Dann braucht man sich halt keine so große Gewissensbisse mehr zu machen. Diese Entmenschlichung durch Wörter in der EU, die finde ich sehr schlimm.

DOMRADIO.DE: Das Bündnis Abolish Frontex fordert die Abschaffung dieser EU-Grenzschutzagentur und wirft ihr zugleich Menschenrechtsvergehen vor, für die es ja auch in einigen Fällen seit Jahren schon Beweise gibt. Was halten Sie von dieser Forderung? Frontex abschaffen?

Hollerich: Wenn man Frontex reformieren könnte, wäre das besser. Aber ob dazu der politische Wille da ist, da habe ich dann doch Zweifel. Aber der Präsident des EU-Parlaments, David Sassoli, ist kürzlich dafür eingetreten, dass man wirklich Flüchtlinge retten und das auch Aufgabe der EU sein müsste. Es gibt also noch Leute auch in der EU, die hohe Ideale haben und die vielleicht genauso enttäuscht sind wie wir, die aber etwas bewirken können.

DOMRADIO.DE: Nun findet die Rettung von Geflüchteten de facto nicht statt, zumindest nicht von offizieller Seite. Es beteiligen sich aber gleichzeitig Polizisten aus ganz Europa, auch aus Deutschland am europäischen Grenzschutz. Was wird da geschützt, wenn zugleich die europäischen Werte durch Aufrüstung und Abschottung gegenüber diesen Hilfesuchenden verraten werden?

Hollerich: Ja, eigentlich kann man da nicht schützen. Es ist vielleicht klar, dass man nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann. Das würde ich ja noch zugestehen. Aber dann muss man auch menschenwürdige Unterkünfte für die Leute haben und man muss sie als Menschen behandeln. Bei den Push-Backs, die wir in diesen Tagen erleben, werden auch Menschen zurückgedrängt, die ein Recht auf Asyl haben, ohne dass es geprüft wird. Und das ist illegal.

DOMRADIO.DE: Dieser Frontex-Einsatz macht es den Asylsuchenden unglaublich schwer, überhaupt Hilfe auf europäischem Boden zu bekommen. Ein Punkt, den die Europäische Bischofskonferenz mit ihren christlichen Partnern auf EU-Ebene erst kürzlich kritisiert hat. Sie sprechen sogar von Inhaftierung Hilfesuchender, ermöglicht durch das neue EU-Migrations und -Asylpaket, das geplant ist. Bei solch klaren Erkenntnissen? Wieso hat das keine Konsequenzen?

Hollerich: Ich glaube, man gibt einigen Regierungen in Osteuropa immer die Schuld, die ich jetzt nicht nennen möchte, aber jeder kennt. Ich glaube allerdings auch, dass die Regierungen in Westeuropa einfach davon profitieren und sehr froh sind, dass sie die Verantwortung auf ein anderes Land abschieben können. Gleichzeitig übernehmen sie dieses unmenschliche System ohne Probleme.

DOMRADIO.DE: Wir leben gerade in einer Welt, die noch mit der Bekämpfung des Coronavirus beschäftigt ist. Wir wissen um die endlichen Rohstoffe dieses Planeten, die wir teilen müssen. Wir sind alle von den Folgen des Klimawandels betroffen, sind diesen Folgen ausgesetzt, auch wenn es den globalen Süden bereits deutlich stärker trifft. Zugleich vertehen sich alle Katholiken als Weltkirche, propagieren Nächstenliebe als Kern ihres Glaubens. Sie merken schon, worauf ich hinaus will. Schauen wir bei der Flüchtlingsfrage dann doch lieber weg und schauen dann doch nicht so weit in die Welt?

Hollerich: Wir dürfen nicht wegschauen. Das ist ganz klar. Die Lehre der Nächstenliebe im Evangelium ist ganz klar. Was Papst Franziskus uns mit Fratelli tutti sozusagen mitgegeben hat, ist auch ganz klar. Diese Leute müssen als Schwestern und als Brüder behandelt werden. Sonst können wir uns nicht Christen nennen. Der Papst hat sehr oft von ökologischer Bekehrung gesprochen. Wir brauchen auch eine humane Bekehrung.

Unser menschliches Herz muss durch diese Not der Leute wieder gerührt werden, damit wir auch den Politikern und Politikerinnen klarmachen, dass man hier handeln muss. Man soll den Leuten auch dort helfen, wo sie leben. Da bin ich sehr dafür. Das hat der Papst auch gesagt. Jeder hat ein Recht, in seinem Land zu bleiben. Aber anstatt davon zu sprechen, sollte man es dann auch machen. Um da wirklich zu helfen, braucht es eine Art Marshallplan für Afrika zum Beispiel.

Bei diesem Marshallplan müssten zuerst die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass ein solcher Plan überhaupt Erfolg haben könnte. Man müsste ihn wahrscheinlich auch mit China zusammen besprechen. Aber ich sehe niemand, der das wirklich in Angriff nimmt. Also das ist schön, diese Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern, aber das ist nur sozusagen eine Art Entschuldigung dafür, damit wir keine Flüchtlinge aufnehmen müssen.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie jetzt das nächste Mal jemanden treffen von der EU-Kommission oder aus dem Europäischen Parlament, also verantwortliche Politiker und Politikerinnen, die für die EU-Außengrenzen eben auch verantwortlich sind, was geben Sie denen mit auf den Weg? Was wäre Ihre Forderung?

Hollerich: Bei fast jedem Gespräch, das ich habe, weise ich einmal auf die Flüchtlingslage hin. Meine Forderungen sind einfach Änderungen. Man kann vielleicht nicht alles auf einen Streich ändern, weil es halt auch sehr viele politische Widerstände dagegen gibt. Aber ein klein wenig könnte das sich doch bewegen.

Es gibt ja durchaus Politiker, die ein Gewissen haben, die dafür sehr empfänglich sind und sich dafür einsetzen. Und ich glaube, wir müssen mit diesen Politikern eine Front aufbauen. Alle Leute guten Willens - ob das jetzt Christen, Sozialisten, Atheisten, gläubige Katholiken oder andere Gläubige sind. Es geht hier eigentlich um unser gemeinsames Menschsein. Aber ich empfinde es auch als ein Versagen des Christentums. Das muss ich schon sagen.  

Jean-Claude Hollerich

Kardinal Jean-Claude Hollerich ist seit 2011 Erzbischof im traditionell katholisch geprägten Luxemburg. Am 9. August 1958 im luxemburgischen Differdingen geboren, studierte er Ende der 70er Jahre in Rom Theologie. 1981 trat er in den Jesuitenorden ein und verbrachte in den 80er und 2000er Jahren jeweils mehrere Jahre in Tokio.


Jean-Claude Hollerich, Erzbischof von Luxemburg, / ©  Sven Becker (KNA)
Jean-Claude Hollerich, Erzbischof von Luxemburg, / © Sven Becker ( KNA )
Quelle:
DR