Libanon drei Wochen nach den Explosionen

Ein Land in Trümmern

​Knapp drei Wochen nach den Explosionen im Hafen von Beirut sind die gröbsten Trümmer von den Straßen des Beiruter Stadtzentrums gefegt. Mehrheitlich von tatkräftigen Libanesen selbst, denn der Staat ist im Wesentlichen eins: abwesend. Wird der Neuanfang gelingen?

Nach der schweren Explosion in Beirut / © Hassan Amman (dpa)
Nach der schweren Explosion in Beirut / © Hassan Amman ( dpa )

Inmitten einer der schwersten Krisen des Landes ist am 10. August zum zweiten Mal in weniger als zwölf Monaten die Regierung zurückgetreten. Der Druck der Straße war zu groß, und bei manchen Politikern herrschte wohl die Einsicht, dass das Land zu viele Baustellen hat und der Weg zu nötigen Reformen steinig und lang sein wird.

Die Zerstörungen der Explosion machten den Riss sichtbar, der sich schon länger durch den Libanon zieht, jenem zwischen einem Volk, das konfessions- und parteiübergreifend seit Monaten für Wandel auf die Straßen geht und einer politischen Klasse, die letztlich nichts mehr fürchtet, als eben jene Veränderung. Die Katastrophe legte sinnbildlich Wunden offen, an denen der Libanon schon seit langem leidet: Korruption, Misswirtschaft, Klientelismus.

Vorwurf an Politiker

Am "herzzerreißendsten und ärgerlichsten" sei, dass Beamte "die Katastrophe aus politischer Sicht behandeln", äußerte der maronitische Patriarch Kardinal Bechara Rai zuletzt in einer Predigt Kritik am Verhalten der Führung. Er warf den Politikern vor, eine internationale, unparteiische und integre Untersuchung zu verhindern, "die durch ihre Techniken und Neutralität die Ursachen der Explosion aufdeckt und Verantwortliche bestimmt".

Mit Neuwahlen im Hinterkopf, so Rai, legten sie Forderungen und Bedingungen fest, als ob nichts geschehen sei: kein Zusammenbruch des Landes, kein Hunger, weder Explosion noch eine Covid-19-Pandemie mit dramatisch ansteigenden Infektionszahlen, die das marode Gesundheitssystem längst überfordern. Dabei, so der einflussreiche Kirchenmann, brauche das Land so dringend Heilung, mit anderen Worten: eine umfassende Reform hin zu einer "aktiven Neutralität", die die Interessen des Landes und seiner Bewohner wieder über die Interessen von Clans, Parteien oder Religionsgruppen stellt.

Libanon steht unter Zeitdruck

In ersten Konsultationen zur Regierungsbildung ging es vergangene Woche um den Vorschlag von Parlamentssprecher Nabih Berri, den im Oktober zurückgetretenen Ministerpräsidenten Saad Hariri erneut zum Kopf des Kabinetts zu machen. Hatte sich die von Kritikern als Schattenkabinett betitelte Regierung um Hariris Nachfolger Hassan Diab mit zumindest äußerlich neuen Köpfen geschmückt, scheint eine Rückkehr zum etablierten System in den gegenwärtigen Gesprächen kaum verhohlen. "Warum der Widerstand gegen Reformen? Warum die Autorität auf ein System beschränken, das sein Scheitern bewiesen hat?" Die Fragen Rais in besagter Predigt - vor diesem Hintergrund klingen sie rhetorisch.

Bereits in den vergangenen beiden Runden zogen sich die Regierungsbildungen über Monate hin. Doch das Land steht unter Zeitdruck, seine Probleme haben sich immer mehr verschärft. Unüberhörbar sind Reformforderungen aus dem Ausland - und ohne ausländische Hilfe steht der Libanon vor dem Kollaps. Doch auch die Anteilnahme ist nach der Explosion von Beirut so groß wie schon lange nicht mehr: Rasch hat die Welt Nothilfe zugesagt, Gelder freigemacht, Feldlazarette, Sanitäter, Soldaten geschickt. Gleichzeitig machten Geberländer wie Frankreich oder Deutschland aber klar, dass sie streng darüber wachen werden, dass das Geld nicht in korrupte Hände fließt.

Chance auf einen Neuanfang

Die Katastrophe von Beirut müsse ein Weckruf sein, warnte Patriarch Rai und forderte, alle Waffen- und Sprengstofflager in bewohnten Gebieten zu räumen. 2.750 Tonnen ungesichertes Ammoniumnitrat sorgten für die Wucht der Explosion, die mehr als 180 Menschenleben forderte. Der schiitischen Hisbollah wird nachgesagt, das Salz aus Ammoniak und Salpetersäure für Terroranschläge zu nutzen. Beweise für Hisbollahs Verwicklung in die Geschehnisse vom 4. August gibt es zwar nicht, doch die Kritik des Kardinals an der Miliz, deren Regierungsbeteiligung vom Westen zugleich als ein wesentliches Hindernis für Reformen angesehen wird, ist kaum versteckt.

Vielleicht liegt gerade hier die Chance, aus der Krise einen Neuanfang zu schaffen: wenn es gelingt, die Macht der Hisbollah zu beschränken, die Zivilgesellschaft zu stärken sowie möglichst an der Regierung zu beteiligen - und so westlichen Geberländern die langfristige Hilfe für das bankrotte Land Libanon zu erleichtern.

Gebraucht werde, so formulierte es Rai, "eine Figur, die mit den Menschen guten Willens das Netz der arabischen und internationalen Beziehungen wiederherstellt und den Libanon aus seiner erzwungenen politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Isolation herausholt, die ihn erstickt". Über Nacht wird das nicht geschehen, aber der kleine Libanon hat schon mehrfach seine Größe in Sachen Überlebensfähigkeit unter Beweis gestellt.


Kardinal Bechara Boutros Rai / © Paul Haring (KNA)
Kardinal Bechara Boutros Rai / © Paul Haring ( KNA )
Quelle:
KNA