Ein Jahrhundert-Kampf um den Sitz internationaler Organisationen

Wie die EU nach Brüssel kam

Ob Glühbirnen, Subventionen oder Finanzhilfen - was Brüssel entscheidet, das gilt für 500 Millionen Europäer in 27 Staaten. Dass aber ausgerechnet die belgische Hauptstadt der De-facto-Sitz der wichtigsten europäischen Institutionen wurde, ist kein Zufall. Es ist vielmehr Ergebnis eines über ein Jahrhundert währenden Einsatzes.

Autor/in:
Christoph Lennert
 (DR)

Tatsächlich hatte sich die Hauptstadt des erst 1830 unabhängig gewordenen Königreichs Belgien schon früh darum bemüht, Sitz internationaler Organisationen zu werden. König Leopold II. setzte sich massiv dafür ein, seine Hauptstadt ins Rampenlicht zu bringen. 1874 etwa tagte eine internationale Friedenskonferenz in Brüssel. Aus ihren Arbeiten ging 1907 die Haager Landkriegsordnung hervor. Ihren Abschluss fanden die Arbeiten daran aber eben in Den Haag, offenbar auf Betreiben des russischen Zaren.



Leopold II., so belegt derzeit eine Ausstellung im belgischen Nationalarchiv, war auch völlig utopischen Plänen zugeneigt. Er unterstützte Bestrebungen von Visionären, die sich für die Errichtung einer Welthauptstadt einsetzten. Tervuren bei Brüssel war für die Reißbrettstadt ebenso im Gespräch wie die französische Riviera oder die Tiber-Mündung bei Rom. 1905 kam es in Tervuren zur ersten Grundsteinlegung für einen Welt-Palast. Doch noch vor dem Ersten Weltkrieg machte Leopolds Nachfolger Albert I. einen Rückzieher. Die Bauarbeiten wurden eingestellt. Der Krieg machte die hehren Pläne endgültig zunichte. Immerhin beherbergte Brüssel 1914 mehr als die Hälfte aller internationalen Organisationen der damaligen Zeit.



Und so warb Belgien ganz selbstverständlich nach Kriegsende um den Sitz des neuen Völkerbundes. Albert I. selbst reiste 1919 nach Paris, um US-Präsident Woodrow Wilson von den Vorzügen seiner Hauptstadt zu überzeugen. Auch Kardinal Desire-Joseph Mercier setzte sich bei Frankreichs Präsident Georges Clemenceau dafür ein. Vergeblich. Wilson, so heißt es, habe Genf als protestantischer Stadt den Vorzug vor dem katholischen Brüssel gegeben.



Aus Fehlern gelernt

Mehr Glück hatten die Belgier nach dem Zweiten Weltkrieg, auch wenn sie sich zum Teil zunächst selbst im Weg standen. Als 1951 die neue Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Montanunion, als Keimzelle der EU-Institutionen nach einem Sitz suchte, konnten sich die sechs beteiligten Staaten nicht einigen. Frankreich favorisierte Straßburg, die Niederlande Den Haag. Fünf der sechs Staaten hätten sich wohl auf Brüssel einigen können. Doch das Veto kam aus Belgien selbst: Die Regierung setzte auf Lüttich und sorgte somit dafür, dass Kompromisskandidat Luxemburg das Rennen machte.



Als nach Inkrafttreten der Römischen Verträge 1958 neue Institutionen ihre Arbeit aufnahmen, wiederholten die Belgier ihren Fehler nicht. Belgien warb mit Hochglanzbroschüren für Brüssel und lobte die Vorzüge des dichtesten Eisenbahnnetzes der Welt, der zentralen Lage, moderner Wohnviertel und herausragender Sport- und Naherholungseinrichtungen.



Die Institutionen kamen nach Brüssel - wenngleich zunächst nur vorläufig: Bei der entscheidenden Konferenz im Juni 1958 konnte die nötige Einstimmigkeit nicht erreicht werden - Italien fehlte wegen Regierungskrise. Die belgische Regierung rammte aber Pflöcke ein, stellte Gebäude zur Verfügung und ließ das Berlaymont-Gebäude als Sitz der Kommission errichten - nach einer Asbest-Renovierung heute wieder ein Wahrzeichen für die EU-Präsenz in Brüssel.



Endgültige Entscheidung erst 1992

Noch aber war der Kampf um den endgültigen Sitz der EU-Institutionen nicht gewonnen. 1965 warben neben Brüssel auch Straßburg und Luxemburg um die neuen Einrichtungen ein EU-Ministerrat und Gerichtshof. 1981 plädierte eine deutsch-französische Achse dafür, die Institutionen nach Straßburg zu verlegen - Belgiens damaliger Ministerpräsident Wilfried Martens widersetzte sich erfolgreich.



1990 erneuerte Frankreichs Präsident Francois Mitterrand den Einsatz für Straßburg. Erst im Dezember 1992, beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Edinburgh, fiel die endgültige Entscheidung, die Brüssel unter anderem die EU-Kommission bescherte, Straßburg das Europaparlament und Luxemburg den Gerichtshof. Nur einstimmig könnten die 27 daran erneut etwas ändern.