Durch Weingarten zieht jährlich Europas größte Reiterprozession

Zwischen Abenteuer und Glaube

Die einen nennen es Glaube, die anderen Abenteuer. 3.000 Reiter ziehen am "Blutfreitag" zu Ehren einer Reliquie durch die Straßen von Weingarten - seit mehr als 500 Jahren.

Autor/in:
Samuel Dekempe
Blutritt in Weingarten / © Felix Kästle (dpa)
Blutritt in Weingarten / © Felix Kästle ( dpa )

Für 24 Stunden wird jährlich am Freitag nach Christi Himmelfahrt die gesamte oberschwäbische Stadt Weingarten abgeriegelt: Straßen werden gesperrt, Parkplätze geräumt, alle Hotelzimmer sind ausgebucht. Dabei ist es kein Staatsbesuch, den das Städtchen zu organisieren hat, sondern ein Kirchenfest: den "Blutfreitag", an dem Europas größte Reiterprozession durch die Straßen zieht. Dafür kommen 3.000 Reiter, 4.000 Musiker und rund 30.000 Besucher.

Blutreliquie in der Basilika in Weingarten

Grund dafür ist die Blutreliquie, die seit Jahrhunderten in der Basilika in Weingarten ihren Platz hat. Sie soll einige mit Erde vermischte Tropfen Blut Jesu beinhalten. Die Weingartener Reliquie ist Teil der Blutreliquie aus dem norditalienischen Mantua, die im 11. Jahrhundert zwischen Papst, Stadt Mantua und dem deutschen Kaiser aufgeteilt wurde. Der Kaiser nahm sie mit über die Alpen und schenkte sie seinem Vasallen Balduin von Flandern. Nach dessen Tod erbte seine Tochter, Judith von Flandern, die Reliquie. Und sie heiratete Welf IV., den Graf von Weingarten und brachte so die Reliquie mit nach Oberschwaben.

Der Reliquie zu Ehren findet seit mehr als 500 Jahren der jährliche Blutritt statt. Am "Blutfreitag" wird sie aus ihrer Vitrine im Altar der Basilika genommen und durch die Straßen und das Umland der Stadt getragen. Die Tradition trotzte Aufklärung und Säkularisation.

300jährige Familientradition

Pünktlich mit dem Glockenschlag um sieben Uhr ziehen die Reiter mit den Musikkapellen an der Basilika los. Der Weingärtner Pfarrer Ekkehard Schmid trägt seit ein einigen Jahren die Reliquie auf einem besonders geschmückten Pferd. Er ist der sogenannte Blutreiter, der der Stadt und dem Land den Segen bringt. Im Mittelalter war der Segen zur Lebenssicherung der Menschen gedacht, erklärt er. Heute sei er auch Symbol für die Verantwortung, die der Mensch gegenüber der Schöpfung hat.

Die Familie von Wolfgang Habisreutinger ist seit neun Generationen am Blutritt beteiligt. Einer seiner Vorfahren, Johann Georg Habisreutinger, kam 1712 nach Weingarten und übernahm die Säge-Werkstatt des Klosters. Seitdem ritt er bei der Prozession mit. Das Blutfreitagsgeschehen ist damit seit über 300 Jahren Familientradition.

Schon als 15-Jähriger durfte Wolfgang Habisreutinger zum ersten Mal mitreiten; mit Frack und Zylinder bekleidet und einer rot-weißen Schärpe vor der Brust. "Es war Juni und es schneite", erinnert sich der 69-Jährige. "Da wusste ich: Auch wenn es in den nächsten Jahren regnet, kann es nicht mehr schlimmer werden." Für ihn sei der Blutritt jedes Jahr aufs Neue "ein richtiges Abenteuer". Ein Abenteuer, das ihn jedoch nicht ermüdet, sondern Kraft gibt - eine Kraft, die von der Blutreliquie ausgehe, meint er.

Legende vom Blut Jesu

Der Legende nach soll der römische Soldat Longinus bei der Kreuzigung Jesu das Blut mit der Erde vom Boden abgeschabt haben. Ob es tatsächlich so geschehen ist, kann nicht bewiesen werden. Es geht aber um die Symbolik, sagt Pfarrer Schmid. "Man muss über den Graben der Beweisbarkeit springen und sich dem Glauben anvertrauen - oder eben nicht."

Und auch Habisreutinger sagt, es sei nicht entscheidend, ob es tatsächlich das echte Blut Jesu sei. Er glaubt, "dass die Heilig-Blut-Reliquie eine Segenskraft hat". Er spricht von einem Gefühl, einer Erfahrung.

Reine Männertradition

Sorgen über die Zukunft dieser jahrhundertealten Tradition macht er sich nicht. Man habe nie Probleme gehabt, junge Leute zu finden, sagt Habisreutinger. Denn es sei eben auch ein Abenteuer. Daneben spiele jedoch der religiöse Aspekt eine wichtige Rolle. Nicht umsonst würden die Reiter jedes Jahr, an einem Brückentag frühmorgens aufstehen und dann stundenlang, teilweise bei ständigem Regen, auf dem Pferd sitzen.

Dieses Abenteuer bleibt jedoch Frauen verwehrt - nur Männer dürfen mitreiten. Der Blutritt sei als Männertradition entstanden, sagt Habisreutinger, und so solle es auch bleiben. Denn wenn Frauen mitritten, würde sich der Charakter des Blutritts verändern, davon ist er überzeugt. "Und warum soll man etwas verändern, was sich bewährt hat?"


Quelle:
KNA