Dominikanerpater Entrich beschäftigt die Vertrauensfrage

"Erst wenn alles am Boden liegt, wird Neues wachsen"

Immer wieder aktuelle Studien aus den Bistümern zum Thema Missbrauch belasten zunehmend auch verdiente Bischöfe aus der ersten Reihe. Gibt es in dieser ausweglosen Lage überhaupt noch Hoffnung für die Kirche?

Pater Entrich denkt über das verloren gegangene Vertrauen in der Kirche nach / © Beatrice Tomasetti (DR)
Pater Entrich denkt über das verloren gegangene Vertrauen in der Kirche nach / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Pater Entrich, was die Erschütterung angesichts des großen Vertrauensverlustes in der Kirche angeht, gibt es kaum Verschnaufpausen. Wenn man sich so umhört – auch unter ehemals hoch engagierten Gemeindemitgliedern, die sich mittlerweile resigniert abwenden – scheint die Kirche kein Bein mehr auf die Erde zu bekommen. Woran liegt das?

Pater Dr. Manfred Entrich (Dominikaner in der Düsseldorfer Altstadt): Dass das Wort "Missbrauch" inzwischen in der Kirche einen bedeutenden Rang eingenommen hat und das Evangelium verdrängt, die Frohe Botschaft, von der wir doch leben, fällt mir schwer zu akzeptieren. In dem Begriff "Missbrauch" steckt ja "falscher Gebrauch". Die Kirche braucht die Menschen und kann mit ihnen doch missbräuchlich – im Sinne von falsch – umgehen.

Das ist in der Tat erschütternd und geschieht immer dann, wenn ich einen Menschen nicht so anspreche, wie er es verdient; wenn ich in den Lebensraum eines anderen eindringe, wo ich nicht hingehöre; wenn ich jemanden nicht so sehe, wie er ist, mich seiner bemächtige und ihn – auch das – zerstöre.

Missbrauch ist ein Handeln, wie es dem Menschen nicht entspricht: weil da jemand nicht als der wahrgenommen wird, der er ist. Das ist zutiefst irritierend. Und Beziehungen, die Missbrauch – körperlichem oder seelischem – ausgesetzt sind, unterliegen einer extremen Belastung.

Und da es erschreckend viele solcher Beziehungen in der katholischen Kirche gibt, ist es kein Wunder, dass sie kein Bein mehr auf die Erde bekommt. Dabei brauche ich doch diesen festen Grund, auf dem ich stehe. Er ist meine Sicherheit. Wenn es aber zu einem missbräuchlichen Kontakt zwischen Kindern und Jugendlichen mit Erwachsenen kommt, wie wir ihn zuhauf erleben, wankt der Boden unter den Füßen.

DOMRADIO.DE: Wie – wenn überhaupt – ließe sich dieses verloren gegangene Vertrauen, an dem so viele verzweifeln und konsequent mit der Institution brechen, denn wiedergewinnen?

Pater Dr. Manfred Entrich, Dominikaner in Düsseldorf

"Was wir jetzt brauchen, sind glaubwürdige Zeichen; Haltungen, die einen Neubeginn möglich werden lassen, damit Licht und nicht Dunkelheit herrscht. Klar, das geht an die Substanz. Entschuldigt wird sich viel. Das allein aber reicht nicht aus."

Entrich: Ich treffe viele Menschen, die sagen: Das ist nicht mehr meine Kirche. Das kann ich nachvollziehen. Denn wenn Vertrauen fehlt, wenn mir jemand sein Vertrauen entzieht, werde ich lebensunsicher. Das wissen auch Eltern, die den Kontakt zu ihrem Kind verlieren, weil die Vertrauensbasis zerbrochen ist. Wem das Vertrauen durch Tat oder Wort entzogen wird, der steht auf verlorenem Posten da, der ist mutterseelenallein. So erleben wir es in der Kirche gerade. Deshalb sprechen wir in der Therapeutik auch von Vertrauensarbeit. Da ist es mit Entschuldigungen nicht getan. Neu vertrauen kann ich nur, wenn ich mich wieder voll investiere.

Blick in das barocke Gewölbe von St. Andreas in Düsseldorf / © Beatrice Tomasetti (DR)
Blick in das barocke Gewölbe von St. Andreas in Düsseldorf / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Was also kann ich tun in dieser zutiefst sündhaften, verstörenden Situation? In der Bußbesinnung gibt es einen wichtigen Dreischritt: das Gebet, Fasten und gute Werke tun. Im Gebet wende ich mich an Gott, um mich wiederherzustellen aus der Zertrümmerung meines Lebens. Beim Fasten räume ich die Trümmer weg. Und nur, indem ich gut an anderen handele, gibt es einen Schritt hin zu einem Neubeginn. Was wir jetzt brauchen, sind glaubwürdige Zeichen; Haltungen, die einen Neubeginn möglich werden lassen, damit Licht und nicht Dunkelheit herrscht. Klar, das geht an die Substanz. Entschuldigt wird sich viel. Wie gesagt, das allein aber reicht nicht aus.

Jesus Christus sagt über sich: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Das ist doch die Einladung der Kirche an die Menschen. Wenn ich diese Botschaft verdunkle, versündige ich mich. Wenn jemand etwas verschweigt, besteht Verdunklungsgefahr, heißt es nicht umsonst. Oder umgekehrt: Das bringt Licht in die Situation. Ein weiteres gutes Beispiel für eine Sprache, die diesbezüglich reich an Bildern ist, ist das Lied "Ich steh vor Dir mit leeren Händen…" Nein, ich verzweifle nicht an dieser Kirche. Ich bleibe dabei: Sie ist eine große Einladung an die Menschen. Aber damit die Menschen diese Einladung auch annehmen, muss sie ehrlich sein und einen sorgfältig von Scherben und Trümmern aufgeräumten Raum bieten.

DOMRADIO.DE: Elf Jahre lang waren Sie Sekretär der Pastoralkommission bei der Deutschen Bischofskonferenz, haben in dieser Zeit zunächst eng mit dem Vorsitzenden Kardinal Lehmann, später mit Erzbischof Zollitsch zusammengearbeitet. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie heute miterleben, dass beide für ihr Versagen bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen bzw. ihr konsequentes Vertuschen über Jahrzehnte öffentlich demontiert werden?

Pater Dr. Manfred Entrich, Dominikaner in Düsseldorf

"Es muss möglich sein, Schuld als solche zu erkennen, ohne den anderen abzuurteilen. Das allein ist Gott vorbehalten. (…) Es gibt diesen letzten Augenblick der Gnade. Ohne meinen Glauben daran würde ich verrückt."

Entrich: Weder bin ich wegen eines Bischofs in die Kirche eingetreten, noch werde ich wegen eines Bischofs austreten. Das habe ich mir selbst verordnet. Aber ich sehe dieses Fehlverhalten, schaue es mir bewusst an und bete viel für meine damaligen Vorgesetzten. Vergessen wir nicht, dass Menschen sündigen, aber der Mensch ist nicht die Sünde. In dieser schmerzlichen Gemengelage von Schuld und Vertuschung stellt sich die Frage der Umkehr. Aber echte glaubwürdige Umkehr braucht das Bekenntnis. Ein Neubeginn ist erst möglich im Eingeständnis von Vergangenem. Jesus selbst fragt: Wer wirft den ersten Stein?

Für mich persönlich gilt bei all dem, was ich gerade schmerzlich erlebe, dass ich mir die Aburteilung eines Menschen verbiete. Es muss möglich sein, Schuld als solche zu erkennen, ohne den anderen abzuurteilen. Das allein ist Gott vorbehalten. Und da dürfen wir es uns auch nicht zu leicht machen. Es gibt diesen letzten Augenblick der Gnade. Ohne meinen Glauben daran würde ich verrückt.

DOMRADIO.DE: 13 Jahre ist es nun her, dass diese auch durch das System begünstigten Verbrechen an Schutzbefohlenen zum ersten Mal offen gelegt wurden. Nicht wenigen kirchlichen Würdenträger ist inzwischen massive Mitschuld attestiert worden, weil sie weggeschaut, nicht gehandelt haben. Das Thema kollektiven Versagens dominiert beharrlich die Schlagzeilen und überlagert alles andere, wofür die Institution Kirche mit ihren vielen engagierten Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie ihrem umfassenden karitativen Engagement ja eigentlich in allererster Linie steht. Gibt es Hoffnung, dass sich das Blatt noch einmal wendet?

Pater Dr. Manfred Entrich, Dominikaner in Düsseldorf

"Es ist kein schreckliches Schicksal, am Boden zu liegen. Daraus entsteht ein gesundes Fundament, Platz für Neues. Und wir werden die Kraft finden, wieder aufzustehen."

Entrich: Es ist unbestritten eine große Tragik. Ich bin davon überzeugt, dass ohne die Kirche mancher gesellschaftliche oder persönliche Schmerz nicht zu tragen wäre, auch wenn wir heute sehr klar sehen, dass die Kirche in der Prozession der Schuldiggewordenen mitgeht. Ihr Versagen ist wie ein Unwetter, das die ehemals kraftvollen Bäume im Wald unseres Lebens entwurzelt. Als solcher war Kirche lange ein Schutz- und Zufluchtsraum für die Menschen. Jetzt erleben wir einen Flächenbrand, der die Grundlagen unseres Vertrauens in diesen Schutzraum erschüttert, zum Teil zunichte macht. Ohne Vertrauen gibt es kein gedeihliches Zusammenleben, kein Wachstum. Ohne Vertrauen ist alles nichts.

Die Dominikaner sind ein Predigerorden / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Dominikaner sind ein Predigerorden / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Und ob es Hoffnung gibt? Hoffnung mache ich nicht. Hoffnung erfahre ich, sie wird mir geschenkt. Für mich sind zum Beispiel Orte wie Lourdes und Taizé Orte der Hoffnung. Gerade in Lourdes fasziniert mich diese wundersame Achtsamkeit gegenüber an Leib oder Seele Erkrankten. In Lourdes hat der Kranke immer Vorfahrt. Das könnte der Maßstab für uns Christen sein: Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit, Zuwendung. Und in einem Taizé-Text heißt es: Im Heute Gottes leben. Das bedeutet doch, nicht das Lähmende der Vergangenheit oder das Übersprudelnde der Zukunft in den Blick zu nehmen, sondern die Realistik des Tages. Tun, was gerade dran ist. Konkret: die sündhaften Trümmer meiner Vergangenheit entsorgen und die Träume meiner Zukunft nicht ins Verträumen abgleiten lassen. Aber dafür muss ich mit mir und Gott stimmig sein, den Traum meines Lebens – meine Eindeutigkeit von Glaube, Hoffnung und Liebe – rein halten.

So gesehen habe ich Hoffnung für die Kirche, auch weil sie die Kraft hat, an ihre Spitze einen Mann wie Franziskus zu stellen. Vieles in der Kirche stirbt, wird abknicken und zu morschem Holz werden – um im Bild der Bäume zu bleiben. Erst wenn alles am Boden liegt, wird Neues wachsen. Das ist das Gesetz der Natur. Und das macht mir persönlich Hoffnung. Es ist kein schreckliches Schicksal, am Boden zu liegen. Daraus entsteht ein gesundes Fundament, Platz für Neues. Und wir werden die Kraft finden, wieder aufzustehen.

DOMRADIO.DE: Mit Ihrem Konvent leben Sie mitten unter den Menschen in der Düsseldorfer Altstadt; da, wo das Leben pulsiert. Die von Ihrem Orden geprägte Citypastoral ist erfolgreich, trotzdem laufen die Gläubigen der Kirche andernorts scharenweise davon. Die Austrittswelle hält ungebremst an. Worauf müssten sich die kirchlichen Verantwortungsträger, aber auch die Laien wieder mehr besinnen, wollen sie das Ruder noch einmal herumreißen und dem Lebensraum Kirche allen momentanen Widerständen zum Trotz eine attraktive Außenwirkung verschaffen?

Die Klosterkirche der Dominikaner ist auch werktags gut besucht / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Klosterkirche der Dominikaner ist auch werktags gut besucht / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Entrich: Manchmal frage ich mich, warum trotzdem immer noch so viele Menschen zu uns kommen. Denn eigentlich ist unsere Kirche immer voll. Das ist schon sehr beeindruckend und macht auch Mut. Liegt es an der Art der Verkündigung, weil wir evangeliumsbezogen predigen? Tatsache ist doch, dass man mir da, wo ich mit Bescheidenheit und Ehrlichkeit das Evangelium verkündige, zuhört. Was Menschen nicht vertragen, so meine Beobachtung, ist wenn es um "Sprüche klopfen" geht, wie es im Rheinland so schön heißt. Das bringt es nicht. Also: Wir sind dankbar, aber nicht hochmütig. Letztlich ist es doch eine Frage der Authentizität. Die Menschen müssen das, was wir sagen – und das gilt nicht nur für uns Dominikaner, sondern alle Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Kirche – an unserem Leben ablesen können. Wir können uns nicht vom eigenen Leben dispensieren. Wer das tut, sollte aufhören zu predigen.

Und zum Stichwort Attraktivität: Ich muss die Kirche nicht attraktiv machen, sie muss attraktiv sein. Das, was sie verkündigen will, muss von denen, die sie repräsentieren – Laien und Priester – glaubwürdig verkörpert werden. Anders gesagt: Wir  haben Verkündigung in demütigem Vertrauen auf Gott zu leisten. Ich kann nicht die Muskeln spielen lassen. Wenn die Kirche ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen will, muss an ihrer Sprache, ihrem Äußeren und ihren Strukturen vor allem Demut ablesbar sein.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Die Düsseldorfer Dominikaner

In St. Andreas, der ehemaligen Kirche der Jesuiten und Hofkirche des Düsseldorfer Fürstenhofes, die auf eine fast 400-jährige Tradition zurückschaut, üben die Dominikaner seit 1972 eine Seelsorge aus, die von ihrer Ordensspiritualität geprägt ist und sich an Menschen wendet, die aus einem weiten Umkreis Düsseldorfs zu ihnen kommen. 1991 wurde dem Namen der Kirche St. Andreas die Bezeichnung „Offene Kirche der Dominikaner“ hinzugefügt. Das war der Beginn einer „City-Pastoral“ in Düsseldorf.

Konvent der Dominikaner in Düsseldorf / © Julia Steinbrecht (KNA)
Konvent der Dominikaner in Düsseldorf / © Julia Steinbrecht ( KNA )
Quelle:
DR