Corona-Pandemie verschärft Lage der Flüchtenden

"Die Verzweiflung wächst"

Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht: Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR zählt über 82 Millionen Flüchtende. Das Hilfswerk Misereror fordert zum Weltflüchtlingstag am Sonntag mehr Einsatz bei der Bewältigung der Fluchtursachen.

Flüchtlinge im Mittelmeer / © Santi Palacios/AP (dpa)
Flüchtlinge im Mittelmeer / © Santi Palacios/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn die Corona-Krise - wenn es um Flucht und Vertreibung geht?

Jonas Wipfler (Experte für Flucht und Migration beim katholischen Hilfswerk Misereor) Viele Länder haben ihre Landesgrenzen geschlossen. Das heißt, die Situation wurde schwieriger für die Menschen, die in andere Länder fliehen wollen. Zum Teil sind sie dann blockiert in Ländern und Situationen, die unsicher sind. Die Verzweiflung wächst. Auch bei Menschen, die dann auf engem Raum zusammenleben müssen, etwa in Flüchtlingscamps oder Vertriebenencamps wie zum Beispeil im Nordirak, wo wir das in unseren Projekten sehen. Die Menschen sind natürlich auch unsicher, haben selber Angst vor der Corona-Krise. Und das führt dazu, dass dann Menschen, die fliehen wollen, auch unsichere, gefährlichere Routen wählen, wie zum Beispiel über den Atlantik auf die Kanaren - eine Route, die länger eigentlich nicht mehr so stark befahren war wie jetzt.

DOMRADIO.DE: Ihre Misereor-Partner berichten ja, dass immer mehr Menschen auf den Fluchtrouten sterben. Was ist der Hintergrund?

Wipfler: Wir bekommen sehr viele alarmierende Berichte, gerade in den letzten acht bis zehn Monaten. Zum Beispiel gehen von Nord-Mauretanien aus Menschen auf Boote, um dann auf den Kanaren anzukommen und nach Europa zu kommen. Das ist eben genau diese Alternative, die gewählt wird, weil die Landgrenzen geschlossen sind: Dass Menschen entweder über unsichere Wege in der Wüste versuchen, nach Norden zu kommen oder dann den Weg über das Meer auf relativ unsicheren Booten wählen.

Das sind weite Strecken, das ist das offene Meer. Das heißt, es kentern immer wieder Boote, es werden immer wieder Leichen angespült und wir kriegen wirklich erschreckende Bilder von unseren Partnern, wo Menschen in Leichensäcken am Strand aufgegriffen werden oder von Menschen, die in der Wüste halb verdurstet aufgegriffen werden, weil sie sich verirrt haben, weil sie vielleicht mit falschen Versprechungen gelockt worden sind, dass sie dort jemanden treffen könnten. Gleiches sehen wir auf dem Mittelmeer. Die Zahlen sind nicht besonders hoch von den Menschen, die übers Mittelmeer kommen. Aber der Anteil derer, die bei der Überfahrt sterben, ist tatsächlich gegenüber dem letzten Jahr nochmal gestiegen.

DOMRADIO.DE: Was kann Misereor tun, um den Flüchtlingen zu helfen?

Wipfler: Wir sind weltweit in über 150 Projekten aktiv mit unseren lokalen Partnern, um Geflüchtete und Vertriebene direkt zu adressieren. Das heißt, es geht um Erstversorgung in unmittelbaren Notlagen. Auch wenn Menschen zum Beispiel in der Sahelzone auf der Durchreise sind, dass man sie versorgt, dass man sie informiert über die Routen, dass man, wenn möglich, auch Alternativen anbietet und Ausbildung oder einkommenschaffende Maßnahmen ermöglicht.

Es ist also ein Mix zwischen direkter humanitärer Versorgung und dann aber auch längerfristiger struktureller Unterstützung. Dann haben wir die unmittelbaren Krisengebiete Syrien oder auch Libanon, wo sehr viele Syrer versorgt werden. Da sind wir in den Flüchtlingscamps vor Ort.

DOMRADIO.DE: Sicher ist auch die Politik gefragt, um Flüchtlingen zu helfen und um Fluchtursachen zu bekämpfen. Was muss da passieren? Was muss die Politik tun?

Wipfler: Aus unserer Sicht braucht es vor allem drei Dinge: es braucht mehr humanitäre Aufnahme direkt von vor Ort. Das ist das sogenannte Resettlement - dass also Menschen, die eindeutig schutzbedürftig sind, direkt von vor Ort umgesiedelt werden können nach Deutschland. Dafür braucht es größere Kontingente. Das hat zum Beispiel jetzt auch die neue US-Regierung mit Präsident Biden angekündigt. Und da könnte auch Deutschland und die EU mehr tun. Es braucht auch Alternativen zu diesen gefährlichen Routen.

Zweiter Punkt ist: Es muss an den Perspektiven vor Ort gearbeitet werden, also zivile Krisenprävention in Konflikten, auch die Verständigung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, dass es gar nicht erst zu gewaltsamen Konflikten kommt. Da sind wir auch sehr aktiv mit vielen Partnern. Und der dritte Aspekt ist, dass wir unsere eigene Verantwortung für das globale Zusammenleben ernst nehmen. Das heißt eben auch, gemeinsam mit Ländern vor Ort gegen den Klimawandel vorzugehen, weil der auch zunehmend ein Vertreibungsgrund wird.

Aber auch Fragen wie Wirtschaftsbeziehungen, was subventionieren wir als Europäische Union und geben damit Chancen für andere Weltregionen oder auch unsere Rüstungsexporte. Das müssen wir kritisch betrachten und wir müssen strukturell an den Fluchtursachen arbeiten. Denn Stacheldraht und Zäune sind eben keine Politik, die längerfristig die Fragen beantwortet, die uns diese Herausforderungen stellen.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR
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