Kein Ende im Vatikan-Krimi um Emanuela Orlandi in Sicht?

Die Spuren verlaufen weiter im Sand

Der Fall Emanuela Orlandi bleibt ein ungelöster Krimi im Vatikan. Jetzt wurden die Ermittlungen nach Knochenfunden auf dem Deutschen Friedhof ad acta gelegt. Der Vatikanexperte Ulrich Nersinger sortiert bisheriges Wissen und Vermutungen.

Pietro Orlandi mit einem Bild seiner verschwundenen Schwester / © Serena Cremaschi Insidefoto (dpa)
Pietro Orlandi mit einem Bild seiner verschwundenen Schwester / © Serena Cremaschi Insidefoto ( dpa )

DOMRADIO.DE: Vor 37 Jahre ist die damals 15-jährige Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II. spurlos verschwunden. Im Sommer 1983 war sie vom Musikunterricht nicht mehr nach Hause gekommen. Jede Menge Theorien und Verschwörungsthesen kursierten, sogar alte Gräber wurden geöffnet. Jahrzehnte gingen Kriminologen alle möglichen Hinweisen nach – ohne je Erfolg zu haben.

Sie haben sich ganz intensiv mit dem Fall beschäftigt, auch mit der Familie, dem Bruder, der Gewissheit haben will, was mit seiner Schwester passiert ist. Er will auch jetzt nicht aufgeben und auf eigene Kosten Knochenfunde untersuchen lassen. Müssen wir denn mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass Emanuela Orlandi tot ist?

Ulrich Nersinger (Vatikanexperte): Ich denke schon. Das, was wir bis heute wissen, geht in diese Richtung, obwohl wir natürlich nicht hundertprozentig sicher sein können. Aber ich denke nach so vielen Jahren müssen wir eigentlich damit rechnen, dass sie sich nicht mehr unter den Lebenden befindet.

DOMRADIO.DE: Manch eine Theorie über ihr Verschwinden mutet ziemlich absurd an. Etwa, dass sie entführt wurde, um für vatikanische Drogenpartys sexuell ausgebeutet zu werden. Wie haben Sie darauf reagiert, als dieses Gerücht aufkam?

Nersinger: Als ich das das erste Mal hörte, habe ich gedacht, dass muss man ins Reich der Fantasie zurückweisen. Aber mittlerweile - so ungefähr vor anderthalb Jahren war es, glaube ich -, wurden ja auf einem exterritorialen Gebiet des Heiligen Stuhls in einem Palast der Glaubenskongregation solche Partys von der vatikanischen Gendarmerie aufgelöst.

Es gibt also auch Sachen, von denen man nicht gedacht hätte, dass es sie gibt, die aber doch in der Realität existieren. Aber ob sie in einem solchen Zusammenhang mit Emanuela Orlandi stehen, ist noch dahingestellt.

DOMRADIO.DE: Was halten Sie denn generell von der Entführungstheorie? Zeugen wollen Emanuela am Tag des Verschwindens in einen dunklen BMW steigen gesehen haben.

Nersinger: Das ist wahrscheinlich die Theorie, die am ehesten der Realität entspricht. Wir sind im Jahr 1983, wo es fast üblich ist, dass es in Italien Entführungen gibt. Es ist die Zeit der Skandale mit dem IOR, der Vatikanbank haben. Es gibt noch die letzten Ausläufer der Loge P2 (Propaganda Due, eine Freimaurerloge, Anm. d. Red.), wir haben Attentate, wir haben Ermordungen. Denken wir an den General der Carabinieri, der von der Mafia getötet worden ist. Also die Entführungstheorie erscheint mir doch sehr logisch zu sein.

Es ist aber wahrscheinlich so, dass man nicht Emanuela Orlandi entführen wollte, sondern ein anderes Mädchen aus dem Vatikan. Wir wissen zum Beispiel mit relativer Sicherheit, dass zwei junge Mädchen beobachtet worden sind. Das ist zum einen die Tochter des ehemaligen Polizeichefs des Vatikan, Camillo Cibin, und zum anderen die Tochter des Kammerdieners von Papst Johannes Paul II.

Man hat damals gemutmaßt, dass man wahrscheinlich das falsche Mädchen entführt hat, um irgendjemanden oder irgendeine Institution im Vatikan zu erpressen. Wie gesagt, das ist eine Hypothese, aber sie wird heute als durchaus real angesehen.

DOMRADIO.DE: So unterschiedlich all diese Theorien ja auch sind. Wie entstehen die überhaupt im Vatikan?

Nersinger: Wir sind im Vatikan in einem Land, das eine der ältesten Institutionen der Welt beherbergt. Obwohl Papst Paul VI. den päpstlichen Hof 1970 in das päpstliche Haus umgewandelt hat, haben wir aber auch noch viel Höfisches und viel Klatsch und viele Intrigen. Eine solche Atmosphäre schafft auch Gerüchte.

Die vermeintlich gut gemeinte Manipulation eines frommen Papst-Todes von Johannes Paul I. ist nach hinten losgegangen. Damit hat sich der Vatikan damals unglaubwürdig gemacht und für die Zukunft den Verschwörungstheorien, Spekulationen und Gerüchten Freiraum gegeben.

DOMRADIO.DE: Kommen wir zurück zu Emanuela Orlandi. Ihr Fall ist jetzt erst einmal zu den Akten gelegt. Was meinen Sie, endgültig?

Nersinger: Ich glaube nicht. Ich denke, das ist eine unendliche Geschichte. Wir kennen ja Michael Endes Roman, der gleichlautend ist und in einer Fantasiewelt spielt. Aber unsere Geschichte spielt ja in der Realität, zugegeben mit Fantasy-Elementen, aber ich denke, das ist wirklich eine unendliche Geschichte, bis man sich entschließt, vielleicht auch das, was auch im Vatikan bekannt ist, offenzulegen.

Ich glaube, der Bruder wird keine Ruhe geben und weiterforschen. Es ist auch die Fachansicht, dass es einer gewissen Aufklärung bedarf und ich vermute, dass es auf keinen Fall zu einem endgültigen Ende kommen wird.

Denn auch die Untersuchungen sind ja nicht generell ad acta gelegt. Sie sind ad acta gelegt, was die Ausgrabungen auf dem Deutschen Friedhof betreffen, aber ich vermute, dass wir noch das eine oder andere Mal über diese Causa reden müssen.

Das Interview führte Hilde Regeniter.       


Vatikanexperte Ulrich Nersinger (EWTN)
Vatikanexperte Ulrich Nersinger / ( EWTN )

Öffnung von Gräbern auf dem Campo Santo Teutonico / © Vatican Media (KNA)
Öffnung von Gräbern auf dem Campo Santo Teutonico / © Vatican Media ( KNA )
Quelle:
DR
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