Die ökumenische Rolle der Lutherstadt Wittenberg

Das "protestantische Jerusalem"

In Wittenberg wurde 1517 mit Martin Luthers Thesenanschlag die Reformation in Gang gesetzt. Von der Bedeutung der Stadt für die Annäherung der Kirchen erzählt Hanna Kasparick vom evangelischen Predigerseminar im domradio.de-Interview.

Marktplatz in Wittenberg / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Marktplatz in Wittenberg / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

domradio.de: Wittenberg im Kontext der Weltkirche: Was hat die Stadt in dem Zusammenhang für eine Bedeutung?

Dr. Hanna Kasparick (Direktorin des evangelischen Predigerseminars Wittenberg): Wittenberg ist ein Symbolort für evangelische Christen auf der ganzen Welt. Sie verbinden mit der Stadt ihren Ursprung. Vor allem sind das natürlich lutherische Christen, weil der Thesenanschlag hier vor 500 Jahren stattgefunden hat. Es sind aber auch unabhängig davon viele Christen, die sich auf die Reformation berufen und sich mit der reformatorischen Bewegung verbunden fühlen. Wir hier in Wittenberg erleben ganz oft, dass da eine ganz emotionale Beziehung besteht, gerade wenn die Menschen von weit her kommen. Aus Korea, aus den USA oder aus Skandinavien zum Beispiel. Da ist eine große Berührung zu spüren, wenn die Menschen zu uns kommen und merken: Hier haben wir ein Heimatrecht und hier kommen viele Gedanken her, die uns heute wichtig sind.

domradio.de: Wittenberg hat also vor allem einen Symbolcharakter?

Kasparick: Ja, definitiv. Scherzhaft nennt man uns ja manchmal das "vierte Rom" oder das "protestantische Jerusalem". Das sind alles nette Worte, aber ein bisschen was ist da auch dran. Menschen brauchen einfach Orte um sich mit ihrem Leben und ihrem Glauben zu verorten. Da spielt Wittenberg eine Rolle, weil Luthers Erzählungen, aber auch seine Theologie hier etwas ganz Lebendiges ist.

domradio.de: Ich vermute aber, Sie wollen nicht, dass Wittenberg zu einem Pilgerort wird?

Kasparick: Da können wir gar nichts dran ändern. Er wird es oder er wird es nicht. Wir stellen einfach nur fest, dass das Interesse an Wittenberg in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat. Dass die Gruppen, die zu uns kommen, aus immer mehr Ländern kommen, und dass es tatsächlich auch ein geistliches Interesse der Besucher ist. Insofern kann man das Wort "Pilgern" dafür ruhig verwenden.

domradio.de: Wie erklären Sie sich den Anstieg der Besucherzahlen?

Kasparick: Das hängt definitiv mit dem Reformationsjubiläum zusammen. Mit der Luther-Dekade seit 2007 gibt es auch eine relativ lange Anlaufphase. In diesen Monaten rückt das auch immer mehr ins Bewusstsein: Das ist ein bedeutendes Datum, nicht nur für Christen, nicht nur für evangelische, es hat ja auch etwas mit unserer Kultur zu tun. Mit unserem Leben und unseren Werten. Das ist für viele Anlass zu uns zu kommen.

domradio.de: Inwiefern hat Wittenberg einen ökumenischen Anspruch?

Kasparick: Das Reformationsjubiläum wollen wir als gemeinsames Christusfest feiern, zusammen mit den anderen Konfessionen. Wir grenzen uns da keineswegs ab. Unser Wunsch ist, dass das gelingt. Dass wir eine gemeinsame Beziehung deutlich machen können und uns gemeinsam auch wieder mehr auf die Heilige Schrift besinnen können, mit Jesus Christus die Mitte unseres gemeinsamen Glaubens.

domradio.de: Denkt man heute in Wittenberg über die anderen Konfessionen anders als vor 50 oder 100 Jahren?

Kasparick: Absolut. Wenn ich schon vergleiche, wie vor 50 Jahren allein im evangelischen Raum übereinander gedacht wurde: Da hat sich in der ökumenischen Bewegung eine große Entwicklung vollzogen. In unserer Sprachregelung heißt das "ersöhnte Verschiedenheit". Es gibt verschiedene Traditionen und Perspektiven, verschiedene kulturelle Prägungen, wie auch verschiedene theologische Mittelpunkte in den einzelnen Denominationen – aber die müssen sich nicht ausschließen, sondern können aufeinander bezogen werden. Wir stellen mehr und mehr fest, dass wir uns in der Bezeugung des Evangeliums einig sind, und auch im Verständnis des grundlegenden Werkes Christi.

domradio.de: Viel tut sich im Moment in der ökumenischen Annäherung der Konfessionen. Welche Rolle spielt dabei Wittenberg?

Kasparick: Wittenberg ist eine Stimme in diesem ökumenischen Konzert. Schon relativ früh haben wir den Kontakt zu anderen Konfessionen gesucht. Über Melanchton zur orthodoxen Welt zum Beispiel. Es gab hier auch immer wieder Überlegungen, ob die Kirche denn wirklich getrennt sein muss. Kann sie nicht eins sein? Insofern hat Wittenberg bei allem protestantischen Profil auch eine Verpflichtung zur Einheit der Christen.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.


Dr. Hanna Kasparick / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Dr. Hanna Kasparick / © Renardo Schlegelmilch ( DR )
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