Eine Einordnung der Gewalt-Eskalation in Israel und Gaza

"Die Menschen wollen Ruhe und keinen Krieg"

In Israel und im Gaza-Streifen eskaliert zurzeit die Gewalt. Auf beiden Seiten schlugen in den vergangenen Tagen Raketen ein. Obwohl beide Seiten vorab deutlich gemacht hatten, dass sie diesen Krieg nicht wollen. Eine Einordnung.

Explosion nach einem israelischen Luftangriff in Gaza / © Stringer (dpa)
Explosion nach einem israelischen Luftangriff in Gaza / © Stringer ( dpa )

DOMRADIO.DE: Militante Palästinenser haben nach israelischen Armeeangaben seit gestern hunderte Raketen und Granaten aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert - nach eigenen Angaben als Reaktion auf eine verdeckte israelische Militäraktion am Sonntag. Der Angriff aus Gaza gilt als der heftigste seit Jahren. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?

Marc Frings (Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah): Ja, die Fakten sprechen eindeutig für diese Aussage. 400 Raketen haben es in israelisches Gebiet geschafft. Das erinnert sehr an die Lage, die wir hier zuletzt im Sommer 2014 hatten, als es zum letzten Krieg zwischen Hamas und Israel kam. Aber die Heftigkeit bemisst sich aus palästinensischer Perspektive auch noch einmal anders, denn im Gaza-Streifen herrscht eine massive humanitäre und wirtschaftliche Krise, sodass auch schon vor Sonntag die Lage für die zwei Millionen Menschen, die dort leben, nicht gut war.

DOMRADIO.DE: Israel hat jetzt die Zentrale des Fernsehsenders der palästinensischen Hamas zerstört. Mobilisiert die Hamas denn aktuell wieder besonders stark?

Frings: Man muss das Ereignis und alles, was seit Sonntagabend passiert ist, auch nochmal singulär betrachten. Die Hamas sah sich gezwungen, vor allem gegenüber ihren eigenen Sympathisanten, auf diesen fehlgeschlagenen Angriff der Israelis zu reagieren. Sie musste deutlich machen, dass sie es nicht unbeantwortet lässt, dass ein zentraler Führer ihrer Bewegung getötet wurde.

Tatsächlich beobachten wir, dass die Hamas lediglich ihren eigenen militanten Flügel, die Kassam-Brigaden, mobilisieren kann. Denn die Mehrheit der zwei Millionen Menschen, die dort leben, wollen vor allem eins: Sie wollen Ruhe und keinen Krieg. Insofern wird für mich eher interessant sein, zu beobachten, ob Jahja Sinwar, der De-facto-Chef der Hamas im Gaza-Streifen, noch die Kontrolle über seine Bewegung hat. Dessen Autorität galt zuletzt als deutlich ramponiert.

DOMRADIO.DE: Sie sitzen jetzt im Westjordanland. Wie nehmen die Menschen dort denn die neueste Eskalation auf?

Frings: Wir beobachten schon seit einer ganzen Weile in den palästinensischen Gebieten - in Ostjerusalem, in Gaza, im Westjordanland - eine deutliche Fragmentierung. Zu dieser Fragmentierung gehört auch, dass die Gesellschaft nicht mehr mit einer Stimme spricht, weil jede Gemeinschaft für sich ihre eigenen Probleme hat. Insofern schaut man natürlich besorgt nach Gaza. Aber ich muss auch feststellen, dass es nicht das dominierende Thema ist, weil das Westjordanland ökonomisch und sozial noch einmal besser dasteht.

Die Menschen hier wissen, dass eine größere Konfrontation zu mehr Verlusten hier führen würde, während die Menschen in Gaza schlichtweg nichts mehr zu verlieren haben. Insofern beunruhigt es immer, wenn in Gaza etwas passiert. Aber man hofft natürlich, dass man die Stabilität unter der Besatzung, wie man sie hier erleidet, beibehalten kann.

DOMRADIO.DE: Denken Sie, dass es auch am israelischen Grenzzaun wieder zu Konflikten kommen wird, wie wir sie zuletzt im Mai gesehen haben?

Frings: Am Grenzzaun zwischen Gaza und Israel beobachten wir seit Ende März eine größere Aktion, die unter der Überschrift "Großer Marsch der Rückkehr" firmiert, also dem Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr. Diese Proteste sind niemals wirklich verebbt. Sie haben sich eher institutionalisiert, als etwas, was sehr rituell einmal die Woche stattfand - bislang mit über 200 Toten. Also auch dies ist keine gute Entwicklung.

Ich kann mir vorstellen, dass diese Kundgebungen an den nächsten Freitagen wieder größer werden. Aber ich beobachte auch, dass diese Kundgebungen in Gaza sich in den vergangenen sechs Monaten nicht auf das Westjordanland oder Ost-Jerusalem übertragen haben. Das heißt, die Solidarität ist doch sehr begrenzt. Man schaut mit Sorge rüber. Aber dass man hier von Solidaritätskundgebung oder Ähnlichem sprechen könnte, ist bis jetzt gewiss nicht der Fall.

DOMRADIO.DE: Es heißt, die israelische Armee bereite sich auf einen längeren Konflikt vor, die Truppen im Süden des Landes würden verstärkt. Sehen Sie da jetzt schon den Beginn einer größeren Offensive, gar eines neuen Gaza-Krieges?

Frings: Alle Seiten - sowohl in Gaza, da sind vor allem Hamas und Islamischer Dschihad zu nennen, aber auch in Israel - haben deutlich gemacht: Niemand will diesen Krieg. Premierminister Netanjahu sprach von einem unnötigen Krieg, der hier bevorstehen könnte. Ich glaube, wichtig wird sein, dass die nächsten Stunden eher wieder ruhiger werden. Problematisch würde es erst dann, wenn es zu weiteren toten israelischen Zivilisten kommt, denn das würde Netanjahu unter Zugzwang setzen. Es gibt Vertreter innerhalb seiner Regierung, die schon seit geraumer Zeit für einen größeren Militäreinsatz werben. Dazu gehört auch Verteidigungsminister Lieberman, der sagt, man könne eine Lösung nur noch militärisch herbeiführen.

Man muss innenpolitisch betrachten, dass in Israel vermutlich Anfang nächsten Jahres Parlamentswahlen stattfinden. Das heißt, Netanjahu selbst braucht eher Ruhe. Denn, so problematisch die Lage auch zu bewerten ist: Man hat im Moment eine stabile Sicherheitssituation in Gaza, zumindest wird sie so wahrgenommen in Israel. Und ein Krieg würde eher viele Fragezeichen hervorrufen. Die Frage, was passiert, wenn die Hamas deutlich geschwächt wird und damit auch das Gewaltmonopol in Gaza verlieren würde, wäre dann wieder neu auf der Agenda.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Israel und Gaza - Angriffe von beiden Seiten / © Mohammed Talatene (dpa)
Israel und Gaza - Angriffe von beiden Seiten / © Mohammed Talatene ( dpa )
Quelle:
DR
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