Die irische Kirche als Vorbild für Deutschland?

"Man kann jetzt Ire sein, ohne katholisch zu sein"

Rund fünf Jahre nach Veröffentlichung der MHG-Studie sieht der Reporter der Irish Times in Berlin, Derek Scally, wenig Fortkommen bei der Aufarbeitung kirchlichen Missbrauchs in Deutschland. In Irland seien die Bischöfe da mutiger.

Grabsteine mit Rundkreuzen in Irland / © Jens-Christof Niemeyer (epd)
Grabsteine mit Rundkreuzen in Irland / © Jens-Christof Niemeyer ( epd )

DOMRADIO.DE: Rund fünf Jahre liegt die Veröffentlichung der MHG-Studie in Deutschland zurück, die Ursachen von kirchlichem Missbrauch systematisch erforscht hat. Wenn Sie die deutschen Aufarbeitungsbemühungen im kirchlichen Missbrauchsskandal mit denen in Irland vergleichen: Wie fällt Ihre Bilanz aus? 

Derek Scally / © Birgit Wilke (KNA)
Derek Scally / © Birgit Wilke ( KNA )

Derek Scally (Deutschlandkorrespondent der Irish Times): Es ist schwierig, das zu vergleichen, weil die irisch-katholischen Erfahrungen ganz anders waren als in Deutschland. Ähnlich waren die Machtstrukturen, die Kleriker ausgenutzt haben. Die Kirche versteht sich als universell und ich bezweifle, dass nationale Herangehensweisen ein weltumspannendes Problem lösen.

Das Problem ist überall gleich, egal, wie unterschiedlich die Länder oder die Geschichten sind. Schauen Sie nach Australien oder in die USA: Überall gibt es solche Berichte und trotz unterschiedlicher Ausprägungen der katholischen Kirche treten überall die gleichen Probleme zu Tage. Berichte sind gut um den Ist-Zustand zu erfassen, aber jeder weitere Bericht wiederholt nur, was wir längst schon wissen: Die Probleme, die Muster, die Lösungen. Das ist aus meiner Sicht ein Verschieben von Verantwortung. 

DOMRADIO.DE: In Irland gab es eine staatliche Aufarbeitungskommission, in Deutschland will die Kirche den Missbrauch selbst aufklären. Was halten Sie von dem Modell? 

Scally: In Deutschland ist man offenbar optimistisch, dass das gelingt, obwohl es nirgendwo anders funktioniert hat. Dass die Kirche gerne selbst aufklären möchte ist verständlich, die Frage ist: Bringt es uns weiter und ist das zielführend? 

Derek Scally

"Der Erzbischof von Dublin hat der Richterin quasi die Schlüssel zum Archiv ausgehändigt und ihr freie Hand gegeben."

In Irland hat man schnell verstanden, dass das nicht geht. Aber das hat in Irland auch nur funktioniert, weil wir mutige Bischöfe hatten. Der Erzbischof von Dublin hat der Richterin quasi die Schlüssel zum Archiv ausgehändigt und ihr freie Hand gegeben. Dafür hat er sehr viel Kritik von seinen Mitbrüdern bekommen, weil das angeblich nicht legal war. Vor Gericht kam er dafür komischerweise nicht. 

Diarmuid Martin, Erzbischof von Dublin  / © Paolo Galosi  (KNA)
Diarmuid Martin, Erzbischof von Dublin / © Paolo Galosi ( KNA )

Aber damit hat er die moralische Latte sehr hochgehängt und es gab kein Zurück mehr. Ich sehe in Deutschland keinen mutigen Bischof, der es wagt, sich gegen seine Mitbrüder zu stellen, um die Sache voranzubringen. Ich sehe nur viele ängstliche Männer, die nicht auffallen wollen.   

DOMRADIO.DE: Die Ergebnisse der Studien in Irland waren erschütternd. Was hat das mit dem Selbstverständnis der Iren gemacht, die sich immer für besonders vorbildliche Katholiken gehalten haben, wie Sie es auch in Ihrem Buch “The Best Catholics in the World“ beschrieben haben? 

Scally: Ich habe in meinem Buch versucht darauf hinzuweisen, dass wir alle Teil dieser Geschichte waren. Wir waren stolz auf unsere Priester und Ordensleute, die weltweit als Missionare tätig waren, wenn ich zum Beispiel an den Heiligen Kilian in Würzburg erinnern darf. Aber als es dann um den Missbrauch ging, haben sich alle von ihnen distanziert. Das waren plötzlich "die da drüben". 

Mit Kreuzen soll an Tote in irischem Mutter-Kind-Heim erinnert werden / © Billion Photos (shutterstock)
Mit Kreuzen soll an Tote in irischem Mutter-Kind-Heim erinnert werden / © Billion Photos ( shutterstock )

Ich habe immer versucht klarzumachen, dass wir alle katholische Kirche sind. Und wenn wir das ernst nehmen, müssen wir uns auch eingestehen: Wir waren Teil der Missbrauchsgeschichte. Jeder muss für sich entscheiden: Wieviel hätte er oder sie wissen können? Was muss man mit dem Wissen von heute bereuen? Wo ist man selbst nicht aktiv geworden? 

Derek Scally

"In Irland hat unsere katholische Identität einen sehr schmerzhaften Prozess durchgemacht."

In Irland hat unsere katholische Identität einen sehr schmerzhaften Prozess durchgemacht, weil sie sich von der nationalen Identität gelöst hat. Man kann jetzt Ire sein, ohne sonntags in die Kirche zu gehen oder katholisch zu sein. Das ist vielleicht noch ähnlich wie im katholischen Köln. Und ich frage mich bei den Menschen, die sonntags in den Gottesdiensten in der ersten Reihe sitzen: Sind sie Teil der Lösung oder Teil des Problems? 

DOMRADIO.DE: In der Vergangenheit ist Opfern sexueller Gewalt nicht geglaubt worden, das Wort eines Klerikers wog mehr, Menschen haben weggeschaut. Ist die Rolle der Laien und deren Verantwortung überhaupt schon hinreichend ausgeleuchtet worden? 

Scally: Das Tragische ist, dass "die Laien" – ich mag diesen Begriff eigentlich nicht – Jahrzehntelang konditioniert wurden, in einem kindlichen Zustand zu bleiben: Die Priester und Bischöfe richten alles und meiner Wahrnehmung nach sind sie damit völlig überfordert. Laien waren wie Schafe und die denken bekanntlich nicht selbst. 

Ich finde es tragisch, dass jetzt, wo Laien gefragt werden – ob es nun um Reformen oder Missbrauchsaufarbeitung geht – sich oft nicht befähigt und bemächtigt fühlen, etwas zu sagen. Das liegt vielleicht in der Natur der katholischen Kirche. Auf Englisch sagt man: "pay and pray": Man darf bezahlen und beten, aber mehr nicht. Ich beobachte, dass viele Laien in der Aufarbeitung sehr stumm sind. Das ist menschlich, aber sehr katholisch. 

DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche in Irland war lange Zeit die moralische Instanz. Welche Rolle hat sie heute? 

Derek Scally

"Moralisch hat die Kirche nichts mehr zu sagen."

Scally: Resteverwertung. Im sozialen Bereich ist sie immer noch bedeutsam, weil sie im 19. Jahrhundert unseren Sozialstaat aufgebaut hat. Krankenhäuser, Pflege, Schulen: das ist noch da, das bleibt und wird wertgeschätzt. Aber moralisch hat die Kirche nichts mehr zu sagen. Sie meldet sich auch nicht. Noch nicht einmal in der Debatte um Abtreibung, zu der es 2018 eine Volksstimmung gab. 

Auf die Frage, warum von der Kirche dazu damals nichts zu hören war, hieß es von den Bischöfen sinngemäß: "Unsere Position ist bekannt. Wenn wir uns öffentlich äußern, schaden wir ihr mehr, als wir ihr nutzen.“ Ich glaube, das sagt alles. 

DOMRADIO.DE: Das klingt wie eine Kapitulation. Wenn Sie jetzt auf Deutschland schauen, wo die Austrittszahlen rasant steigen: Was müsste hier passieren, damit die katholische Kirche nicht auch komplett in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit verschwindet?

Scally: Ich kenne einen irischen Priester, der lange Zeit in Deutschland verbracht hat und jahrelang sehr neidisch auf die große, reiche katholische Kirche war, vor allem hier in Köln. Mittlerweile ist er über 80 und sagt, er sei froh, denn die deutschen Bischöfe haben dank der Kirchensteuer diesen riesigen Apparat, der wie die Titanic auf den Eisberg zusteuert. Wenn man arm ist, ist die Fallhöhe nicht so groß. 

Aber wenn man so reich ist wie die Kirche in Deutschland, auch gerade hier in Köln, dann wäre vielleicht etwas mehr Demut angebracht. Diese Kirchensteuer hat eine Kirche geschaffen, die Demut verlernt hat. Jetzt, wo alles auseinanderfliegt, kann es doch nur noch darum gehen, loszulassen. Loslassen kann auch befreiend sein. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Chronik der Missbrauchs-Aufarbeitung bundesweit und in Freiburg

Januar 2010: Der Jesuit Klaus Mertes macht öffentlich, dass es an seiner Schule in Berlin sexualisierte Gewalt und Missbrauch gab - und die Fälle lange verschleiert wurden. Der Skandal löst eine Welle von Enthüllungen in der Kirche und in anderen Institutionen aus.

Februar 2010: Die katholischen Bischöfe bitten bei ihrer Vollversammlung in Freiburg um Entschuldigung. Ein Sonderbeauftragter (Bischof Stephan Ackermann aus Trier) wird benannt, eine Hotline für Betroffene eingerichtet.

Blick auf ein Wandkreuz während der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising / © Sven Hoppe (dpa)
Blick auf ein Wandkreuz während der Vorstellung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München und Freising / © Sven Hoppe ( dpa )
Quelle:
DR