Kardinal Hollerich mahnt zu mehr Disziplin in der Krise

"Die Gefahr ist noch da“

Erzbischof in Luxemburg, COMECE-Präsident in Brüssel, Kardinal in Rom. Eigentlich ist Jean-Claude Hollerich ständig unterwegs. Die Corona-Zeit ist für ihn die Chance zum Innehalten und mehr auf unsere Mitmenschen zu achten.

Jean-Claude Kardinal Hollerich / © Sven Becker (KNA)
Jean-Claude Kardinal Hollerich / © Sven Becker ( KNA )

Himmelklar: Wie ist die Corona-Lage bei Ihnen in Luxemburg? Die Ansteckungszahlen gehen im Moment ja eher nach oben.

Jean-Claude Kardinal Hollerich (Erzbischof von Luxemburg und Vorsitzender der EU-Bischofskommission COMECE): Das kommt zum Teil davon, dass fast alle Einwohner getestet werden. Und wenn man viel testet, gehen natürlich die Fälle nach oben. Es gab aber auch Ansteckungen auf privaten Feiern, Partys. Da sieht man auch die Schwäche der Luxemburger Kultur. Wir sind doch so eine Art "Fun-Society" geworden. Ich glaube, dass viele Leute hier gar nicht mehr gewohnt sind, dass man Grenzen hat und dass Grenzen im Leben eigentlich normal sind. Wenn man dann diese Grenzerfahrung in dieser Pandemie macht, ja, dann fühlt man sich eingeengt, und man möchte losschlagen können, das Leben feiern, auf eine mehr oder weniger ungeordnete oder wilde Art und Weise. Das bringt natürlich dann wieder die Ansteckungsgefahr hoch.

Himmelklar: Das heißt, es braucht ein bisschen mehr persönliche Disziplin?

Hollerich: Ich glaube schon, ja. Die Leute müssen wissen: Die Gefahr ist noch da. Die Pandemie ist in voller Wucht auf dieser Welt. Wenn wir sie in Westeuropa etwas runterfahren können, ist das sehr gut. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das so bleibt.

Himmelklar: Sie haben Verantwortung aber nicht nur in Luxemburg, auch auf Europa-Ebene, als Vorsitzender der EU-Bischofskommission COMECE. Wie organisiert sich das in der Corona-Zeit?

Hollerich: Ich hatte so viele Videokonferenzen, wie noch nie in meinem Leben. Und das ist äußerst anstrengend. Wenn man nur mit zwei, drei Leuten spricht, dann sieht man auf dem Bildschirm die Leute etwas genauer. Man sieht auch, wie sie reagieren, die Gesichtszüge sich verändern, wie man lächelt, wo man etwas angespannt wirkt und so weiter. Und all das ist ja in der menschlichen Kommunikation sehr wichtig. Diese Signale, die Körpersprache. Wenn man aber jetzt zwölf oder 14 an einer Videokonferenz teilnehmen, ist das Bild so klein, dass man das gar nicht mehr erkennen kann. Dann muss man nur von der Logik des Gespräches das Ganze beurteilen. Das ist viel ermüdender, und die Gefahr, sich zu irren, ist dabei viel größer. Das fordert eine sehr große Anstrengung.

Himmelklar: Ist die Kommunikation in so einer Ausnahmesituation einfacher oder schwieriger als im Alltag?

Hollerich: Also in der Kirche, glaube ich, geht es so, dass man nur das notwendige Minimum angeht. Man macht das jetzt, was jetzt wirklich gemacht werden muss. Für den Rest schauen wir, wenn es wieder etwas besser geht. Aber zum Beispiel bei der COMECE ist es ja so: Die Institutionen der Europäischen Union arbeiten weiter. Wir müssen also das Ganze, diese Arbeit, begleiten. Wir müssen darauf reagieren, und das wird schwieriger. Es gibt Leute, die müssen im Sekretariat in Brüssel arbeiten. Andere Leute arbeiten von zuhause aus, was ganz normal ist. Besonders Leute, die eine Familie haben, die die Familie schützen wollen. Aber die Zusammenarbeit gestaltet sich doch dann etwas schwieriger.

Die Politiker arbeiten ja auf dieselbe Art und Weise. Dadurch ist das Ganze noch etwas schwerfälliger geworden. Ich werde jetzt diesen Monat zuerst wieder mal nach Brüssel fahren. Wir hatten ja sehr lange die Grenze zu Belgien geschlossen. Da hätte ich gar nicht nach Brüssel fahren können. Selbst, wenn es von der COMECE notwendig gewesen wäre. Das sind so kleine Einschränkungen, die man hat. Aber ich glaube, dass andere Leute weit größere Einschränkungen haben als ich. Da kann ich mich sicher nicht beklagen.

Himmelklar: Die COMECE koordiniert die Bischofskonferenzen der Europäischen Union. Dabei gab es ja zwischen den Ländern genug Diskussion und Konflikte um Corona, zum Beispiel bei den Grenzschließungen. - Welche Rolle hat da die katholische Kirche gespielt?

Hollerich: Immer wieder aufzufordern, bei der ersten Phase der Corona-Krise auf die Länder wie Italien, Spanien, Frankreich zu schauen. Die Solidarität mit diesen Ländern müssen wir konkret leben. Die erste Reaktion, nur an die eigenen Landsleute zu denken, ist falsch. Gerade als Christen können wir ja nicht die Mitmenschen auf eine Nation beschränken.

Dann auch die Grenzschließungen. Ich glaube, dass man im Großen und Ganzen Grenzschließungen anders sieht, wenn man im Innern des Landes wohnt, oder halt an der Grenze. Wenn man an der Grenze wohnt - und eigentlich wohnen hier alle Luxemburger an der Grenze - ist es ja so, dass das Nachbarland zum eigenen Lebensraum mit dazugehört. Es gibt einen gemeinsamen Lebensraum, der größer ist als der Nationalstaat. Das hat man an der deutsch-luxemburgischen Grenze gesehen. Leute, die morgens ihre Brötchen in Luxemburg kaufen gingen, bekamen die mit Angelrute über die Grenze gereicht. Das habe ich wunderbar gefunden. Auch die Kreativität, die man dort vorfindet. Aber Paare, die getrennt worden sind, das war nicht gut.

Himmelklar: Die EU und die COMECE engagieren sich auch intensiv bei der Flüchtlingsarbeit. Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt auch komplizierter geworden ist.

Hollerich: Es ist viel komplizierter, weil wenn man jetzt weniger Geld hat und das Geld auch braucht für den ökonomischen Aufbau des eigenen Landes. Dann schaut man nicht auf die Misere der anderen. Ich würde mich freuen, wenn man sagt: Ja, jetzt weiß ich, was es heißt, wenn es mir schlecht geht, dann kann ich mich auch in den anderen hineinfühlen. Ich bin dann vielleicht bereit, eher zu helfen. Ich würde mir das erhoffen.

Ich bin sehr froh, zum Beispiel, was der deutsche Innenminister Seehofer vor Kurzem meinte, zum Schicksal der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. Das sei nicht menschlich, und das sei Europa nicht würdig. Ich kann ihm da nur 100 Prozent recht geben. Wir müssen eine politische Lösung finden für Flüchtlinge. Aber wir wissen, wie schlimm die Lage in Libyen ist, das dort zum Teil Leute versklavt und ausgebeutet werden, ökonomisch ausgebeutet, sexuell ausgebeutet. Und wir können doch nicht einfach die Augen verschließen in Europa. Das wäre unchristlich.

Himmelklar: Kann man unter dem Strich sagen: In der Krise darf man nicht nur an sich selber denken?

Hollerich: Es zeigt sich gerade, ob man bereit ist, mit anderen teilen zu können, wirklich solidarisch zu sein. Wenn ich so reich bin, dass ich von meinem Überfluss etwas abgeben kann, dann teile ich nicht, weil das, was ich abgebe, fehlt mir ja gar nicht. Das merke ich ja dann kaum. Aber wenn ich teile, und ich bin dann ein Stück ärmer dadurch, dann ist es ein echtes Teilen. Dann ist es, wenn ich das jetzt so zitieren kann, ein Fasten, das Gott gefällt.

Himmelklar: Sie sind seit vergangenem Jahr Kardinal. Sie sind also nicht bloß Erzbischof von Luxemburg, sondern Sie haben auch Aufgaben direkt im Vatikan, in Zusammenarbeit mit Papst Franziskus. Sie sitzen im päpstlichen Kulturrat und seit neuestem auch im Rat für interreligiösen Dialog. Wie sieht es denn in der Zusammenarbeit mit Rom aus? Konnten Sie in der letzten Zeit überhaupt hin, oder wie koordiniert man sich da im Moment?

Hollerich: Nein, ich konnte nicht nach Rom fliegen, auch weil die Flüge von Luxemburg gestrichen waren. Ich habe jetzt für den September geplant, nach Rom zu fahren. Jetzt kommen ja die Sommermonate, wo sowieso weniger läuft. Der Heilige Vater macht seine sogenannten Ferien, das heißt, er wird verschiedene Dossiers wahrscheinlich sehr intensiv bearbeiten. Diese Zeit ist eine Zeit zum Nachdenken für ihn. Aber viele Versammlungen in Rom wurden abgesagt, weil das einfach nicht physisch möglich war, sich zu treffen, und manche Treffen per Videokonferenz dann auch nicht dasselbe bringen, wo doch dann der persönliche Kontakt wichtig ist. Ich kann das voll verstehen. Aber das wird heißen: Wenn wir keine zweite Welle bekommen, wird es einen sehr arbeitsreichen Herbst und Winter geben.

Himmelklar: Die Arbeit wird ja nicht weniger, da staut sich bestimmt einiges auf.

Hollerich: Aber gut, vieles wurde verschoben. Ich denke an den Weltjugendtag oder den Eucharistischen Kongress in Budapest. Das bringt ja dann andere Verschiebungen mit sich. Wir haben zum Beispiel von den Ministranten, vom CIM-Verband, dann auch vorgeschlagen, unsere Rom-Wallfahrt ein Jahr zu verlegen. Wir wollen ja nicht Konkurrenz machen zum Weltjugendtag, besonders weil dieser in Europa stattfinden wird. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass die europäischen Jugendlichen in großen Zahlen in Lissabon am Weltjugendtag teilnehmen können. Und da geschieht eine Verschiebung, es wird alles ungefähr ein Jahr später geben. Aber Sie haben Recht. Die Arbeit staut sich an, und man wird sehr beschäftigt werden.

Himmelklar: Steht man denn trotzdem noch in Kontakt? Meinetwegen mit dem Papst. Also richtet er sich an sein Kardinalskollegium?

Hollerich: Es gibt keine konkreten Anfragen, aber die Wünsche des Papstes muss man in seinen Äußerungen lesen. Wenn der Papst in Santa Marta predigt, wenn der Papst Audienzen gibt, dann sind das Botschaften, glaube ich, für alle Christen. Ich als Kardinal stehe ja auch ganz einfach zuerst einmal in der Nachfolge Jesu Christi - und wie ich diese Nachfolge Jesu Christi leben kann, sie auch in mein Denken und Handeln einfließt, das ist die Frage. Ich glaube in dieser Zeit der Corona-Krise hat man gerade die Zeit für dieses wichtige Grundthema.

Ich kann ja nicht handeln, wenn ich noch so gescheit handele oder rede, wenn diese Nachfolge Jesu Christi, mein Angebundensein an Jesus Christus, wenn ich das nicht sozusagen jeden Tag erneuere, mich jeden Tag neu aufstelle. Man ist ja dann doch sehr beschäftigt. Zwar ist klar, dass immer Zeit für Gebet da ist. Aber manchmal ist man auch, glaube ich, berufen, mehr Zeit darin zu investieren. Gerade jetzt die Corona-Krise gibt diese Zeit. In dem Sinne fühle ich mich sehr mit dem Papst verbunden.

Himmelklar: Sollten wir in der Krise da als Christen ein Vorbild für die Gesellschaft sein?

Hollerich: Wir sollten authentisch sein. Es wäre schön, wenn wir ein Vorbild wären. Aber ich treffe oft Christen, die andere Leute sehr verurteilen. Und ich treffe manchmal Nicht-Christen, die die Werte des Evangeliums etwas mehr leben als wir, oder als ich. Das ist natürlich für mich eine Herausforderung zu einer Bekehrung. Der Papst ist ja nicht ein liberaler Papst, der die Anforderungen leichter macht, a la "Christianity Light", als neue Version verkündet, sondern er ist radikal. Er möchte, dass wir uns radikal in die Nachfolge Christi stellen. Und dafür muss ich zuerst mit meinem Leben einstehen.

Himmelklar: Herr Kardinal, was bringt Ihnen Hoffnung in dieser Krisenzeit?

Hollerich: Das Gebet, weil ich habe mehr Zeit zum Beten, und man kann sich nicht der Liebe Christi im Gebet aussetzen, ohne dass Hoffnung aufkommt. Ich glaube, als Bischof, als Kardinal wird man so oft mit Situationen konfrontiert, wo sich alle Hoffnung verlieren könnte. Die Zahlen gehen runter. Hier ist Krise, da ist Krise und so weiter.

Aber wenn man sich dann, wie gesagt, im Gebet der Liebe Christi aussetzt, dann kommt die Hoffnung. Wir haben in Luxemburg ein sehr schönes Beispiel dafür. Wir hatten eine italienische Schwester, die auf der Intensivstation lange mit dem Tod gerungen hat. Sie hat es aber geschafft. Und sie hat eine solche Hoffnung ausgestrahlt, auch auf alle Krankenpfleger. Ja, sie hat uns gezeigt, wie wir als Christen in dieser Situation leben können.

Das Gespräch führte Renardo Schlegelmilch.

Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch und Katharina Geiger.

 

Podcast: Himmelklar - Fürchtet Euch nicht (MDG)
Podcast: Himmelklar - Fürchtet Euch nicht / ( MDG )
Quelle:
DR
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