Die Debatte um Spätabtreibungen wirft grundsätzliche Fragen auf

Wann ist Leben glücklich?

Das ist die Geschichte von Felix. Felix heißt "der Glückliche". Und wenn der Dreijährige den Besucher an der Tür mit Handschlag empfängt und sich stolz mit seinem Namen vorstellt, dann deutet zunächst einmal nichts auf sein besonderes Schicksal hin. Allenfalls die beiden Hörgeräte verraten, dass da etwas anders sein könnte. Dass hinter dem kleinen Kerl mit den großen blauen Augen eine Odyssee von Krankenhausaufenthalten und komplizierten chirurgischen Eingriffen liegt, ohne die er wahrscheinlich längst gestorben wäre.

Autor/in:
Joachim Heinz
 (DR)

So gesehen hat Felix wirklich schon eine Menge Glück gehabt. Aber das Paradoxe daran ist, dass der medizinische Fortschritt, der ihm das Leben gerettet hat, anderen zum Verhängnis werden könnte. Felix hat Mukoviszidose, eine unheilbare Erbkrankheit, die sich hauptsächlich auf Atemwege, Lunge und Bauchspeicheldrüse niederschlägt. Damit ist er einer von rund 8.000 Patienten in Deutschland, die dauerhaft auf ärztliche Behandlung angewiesen sind. Hinzu kommt bei dem Dreijährigen ein seltener Gendefekt, der seine Hörfähigkeit auf ein Fünftel reduziert und eine Funktionsstörung der Darmwand verursacht.

Inzwischen ist es möglich, etwa durch Ultraschalluntersuchungen oder eine Analyse des Fruchtwassers, der sogenannten Amniozentese, die häufigsten der rund 1.500 möglichen Mukoviszidose-Mutationen bereits bei Embryos im Mutterleib zu erkennen. Und damit die werdenden Eltern auch in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft vor die Wahl zu stellen, ob sie diese Schwangerschaft fortsetzen oder abbrechen wollen. Die Politik ringt seit vielen Monaten um eine neue gesetzliche Regelung bei Spätabtreibungen, die noch nach der 22. Schwangerschaftswoche vorgenommen werden können und meist im Zusammenhang mit einer schweren Behinderung des Ungeborenen stehen.
Das Tauziehen zeigt vor allem eines: dass Betroffene mit dieser schwierigen Entscheidung allzu oft allein gelassen werden.

Ein Eindruck, den Manuela und Christian, die Eltern von Felix, bestätigen. Wobei sie selbst erst nach der Geburt ihres Sohnes von seiner Behinderung erfahren haben - ohne deswegen eine intensivere Betreuung zu bekommen. «Die Zeit nach der Diagnose hat unsere Partnerschaft verändert», sagt Christian. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: «Wir haben selber nicht gewusst, wie wir das durchstehen, und wir wissen bis heute nicht, welche seelischen Verletzungen unser Kind durch die lange Krankheitsgeschichte davongetragen hat.»

Anfangs, so erinnert sich Christian, «wusste ich mit Mukoviszidose überhaupt nichts anzufangen». Was die Krankheit von Felix für das alltägliche Zusammenleben bedeuten würde, konnte oder mochte der jungen Familie damals niemand sagen. Einmal habe er sich bei einem der behandelnden Ärzte erkundigt, welche Lebenserwartung denn Menschen mit Mukoviszidose hätten, erzählt Christian. «Nach derzeitigem Stand 35 Jahre», sei die lapidare Antwort gewesen. «Wenn man an Zahlen interessiert ist, zieht einen das schon runter», sagt der Diplomingenieur. «Ich habe dann gefragt, ob ich schon mal Geld für den Sarg meines Sohnes zurücklegen soll.» Als Reaktion erntete er lediglich ein langes Schweigen.

Häufig seien Ärzte mit der Situation aber auch überfordert, wendet Manuela ein, die selbst Medizinerin ist. Eine Abtreibung erscheine dann als einfachste Lösung. Weil die Gesellschaft ungeborenes Leben nach dessen Nutzwert und Planbarkeit betrachte. Die bewusste Entscheidung für ein behindertes Kind scheint nicht in dieses Raster zu passen. Wohlgemerkt: Es ist dieselbe Gesellschaft, die Menschen mit Behinderung - so sie auf die Welt kommen durften - in ihrem weiteren Lebensweg nach Kräften fördert und unterstützt. Wieder so ein Widerspruch, der sich für Felix persönliche Zukunft aller Voraussicht nach positiv auswirken wird.

Dass es für ihn überhaupt eine Perspektive jenseits der Krankheit geben würde, war in seinen ersten beiden Lebensjahren sehr unsicher. Bereits zehn Tage nach der Geburt erhielt Felix einen künstlichen Darmausgang, kurze Zeit später erhärtete sich der Verdacht auf Mukoviszidose. Nach zehn Wochen stand überdies fest, dass der Säugling so gut wie gar nichts hören konnte. «Es ist schon erschütternd, wenn Du feststellst, dass all das, was Du Deinem Kind gesagt hast, niemals angekommen ist», versuchen die Eltern ihre Verzweiflung in dieser Phase zu umschreiben.

Es folgten insgesamt sechs große Operationen, in denen der Winzling gleich mehrfach im künstlichen Koma lag. Mit aufgeschwollenem Gesicht, unfähig, auch nur die Augen zu öffnen. Vor dem Hintergrund dieser Krankheitsgeschichte wurden Selbstverständlichkeiten zu kleinen Sensationen. «Als Felix zum ersten Mal in die Windel gemacht hat, war das für uns ein echter Triumph», berichtet Manuela. Ob das Leben mit einem behinderten Kind deswegen eine besondere Tiefe hat?
«Ich weiß es nicht», gibt Christian unumwunden zu, «wir haben ja nie den umgekehrten Fall kennengelernt.» Aber anders? Ja, das sei es schon.

Vielleicht haben die beiden bald schon eine Möglichkeit zum direkten Vergleich. Manuela ist wieder schwanger. Im Juni soll Felix eine Schwester bekommen. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass auch ihr zweites Kind Mukoviszidose haben könnte, bei eins zu vier liegt, haben die Eltern auf pränataldiagnostische Untersuchungen ausdrücklich verzichtet. Man kann das naiv nennen. Doch für Manuela und Christian steht die grundsätzliche Entscheidung im Vordergrund. «Unser zweites Kind darf auch dann auf die Welt kommen, wenn es eine Erkrankung hat, egal wann diese festgestellt wird», sagen die beiden. «Man kann mit allem experimentieren, aber nicht mit dem Leben.»