Der Theologe Eberhard Jüngel wird 75

Narr auf Wahrheitssuche

Theologie studierte er, um seinen Vater zu ärgern. Ein paar Jahrzehnte später war Eberhard Jüngel einer der führenden evangelischen Theologen und Philosophen der Gegenwart. Am 5. Dezember wird der emeritierte Tübinger Hochschullehrer 75 Jahre alt.

Autor/in:
Michael Jacquemain
 (DR)

Prägend waren die ersten beiden Jahrzehnte: Die Kindheit erlebte der gebürtige Magdeburger aus einem kirchendistanzierten Elternhaus im untergehenden Tausendjährigen Reich der Nationalsozialisten, die Jugend in der Zeit der erstarkenden SED-Diktatur. Die Kirche, sagte Jüngel später, war damals neben dem Kabarett der einzige Ort in der DDR, an dem Wahrheit erlebt und gesagt werden konnte. Untrennbar sind seither für ihn die Begriffe Wahrheit und Freiheit miteinander verwoben.

Jüngel studierte in Naumburg und Ost-Berlin und war auch einSemester illegal in der Schweiz. Schon mit 27 Jahren lehrte derordinierte evangelische Pfarrer in Ost-Berlin Bibelwissenschaften, später wandte er sich der Systematischen Theologie und der Philosophie zu. Der Heiligen Schrift als Quelle allen theologischen Denkens blieb Jüngel auch als Dogmatiker treu.

1966 wechselte er mit dem Einverständnis der Partei für drei Jahre nach Zürich, bevor er 1969 dann ohne deren Zustimmung nach Tübingen ging, wo er auch heute noch lebt. Im jahrzehntelangen Streit um die scheinbaren und tatsächlichen Widersprüche zwischen den beiden prägenden evangelischen Denkschulen um Karl Barth und Rudolf Bultmann versuchte Jüngel zu vermitteln.

"Gott als Geheimnis der Welt"
Jüngel ging es vor allem darum, dass die Theologie wieder begann, von Gott zu sprechen. Kern seines Denkens ist, dass Gott sich in Jesus Christus unwiderruflich den Menschen zugewandt hat. Sein wichtigstes Werk, 1977 erstmals erschienen, heißt entsprechend "Gott als Geheimnis der Welt". Seine Rolle als Theologe an der Universität verglich Jüngel einmal mit der eines Narren: Nur Narren könnten befreiende Wahrheiten aussprechen.

Im Protestantismus gehörte Jüngel zu den Befürwortern, als dieKirchen 1999 ihre in Zeiten heutigen Profildenkens kaum vorstellbare "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" unterzeichneten. Er lehnte den Konsens im Unterschied zu anderen evangelischen Theologen nicht ab und bekundete sogar "hohen Respekt" für die "Handschrift des Präfekten der Glaubenskongregation". Das war damals Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI. Jener Ratzinger, der Tübingen exakt in dem Jahr Richtung Regensburg verließ, als Jüngel an den Neckar zog. Das Verhältnis der beiden Theologen ist bis heute von großem gegenseitigen Respekt geprägt - obgleich jeder dieDifferenzen zum Denken des anderen klar benennt.

Auch mit 75 ist der weißhaarige schlanke Mann witzig und ironisch, scharfsinnig und eloquent, mitunter scharfzüngig. Bei aller intellektuellen Brillanz vermag er es aber, seine Theologie auf Zeitfragen herunterzubrechen, ohne sich dem Zeitgeist anzupassen. So vor einigen Tagen, als er bei einer Veranstaltung im Haus der Katholischen Kirche in Stuttgart zum Selbstmord von Nationaltorhüter Robert Enke Stellung nahm. Den Kirchen attestierte er eine theologische Kriminalisierung der Selbsttötung, für die es in der Bibel keine Grundlage gebe. Zwar falle ein Selbstmörder tief, doch für Gott gebe es keine hoffnungslosen Fälle. Mit wem Gott rede, der sei unsterblich.

Seit Jahren wird der Theologe mit Ehrungen überhäuft. Er erhielt das Große Bundesverdienstkreuz, die Verdienstmedaille des LandesBaden-Württemberg, den Predigtpreis des Verlags für die DeutscheWirtschaft, den Karl-Barth-Preis der Union Evangelischer Kirchesowie zahlreiche in- und ausländische Ehrendoktortitel. Seit diesem Jahr ist Jüngel sogar Kanzler des prestigeträchtigen Ordens Pour le Merite für Wissenschaft und Künste. Vielleicht hätte das seinem Vater gefallen.