Der Rabbiner Daniel Alter über das "schwierige Klima" für Juden in Deutschland

Vergeben heißt nicht vergessen

Der Überfall auf Daniel Alter Ende August löste in Deutschland Entsetzen aus. Danach habe er zwar eine "Welle der Solidarität" erfahren, berichtet der Berliner Rabbiner im domradio.de-Interview. Sorgen macht er sich dennoch.

 (DR)

domradio.de: Leiden Sie und ihre Tochter immer noch unter diesem schlimmen Vorfall?

Alter: Ich persönlich habe das, was ich erlebt habe, recht gut verarbeitet. Was sehr hilfreich für die ganze Familie, auch für mich, war die wundervolle breite Welle der Solidarität, die wir aus der gesamten deutschen Gesellschaft erfahren haben. Das hat uns geholfen, das Erlebte richtig einzuordnen und relativ gut damit umzugehen. Für meine beiden Töchter, die elf und sieben Jahre alt sind, hat das Erlebnis natürlich einen traumatischen Charakter gehabt. Vor allem für die jüngere.



domradio.de: Was sagt Ihre jüngste Tochter denn?

Alter: In den ersten Tagen hat sie mit überschäumender Energie reagiert, und jetzt blockt sie ab. Sie hat Erinnerungen verdrängt, will aber auch gar nicht mehr darüber reden. Zu den vielen Hilfsangeboten, die wir erhalten haben, gehört auch, dass wir auch eine kinder- und jugendtherapeutische Aufarbeitung des Traumas übernommen bekommen. Darauf greifen wir zurück, in diesen Tagen läuft das an. Und ich denke, dass meine Kinder in einigen Wochen wieder an dem Punkt sind, an dem sie vorher waren und unbelastet mit ihrem Leben und ihrer Umwelt umgehen können.



domradio.de: Welche Konsequenzen haben Sie aus dem Erlebten gezogen?

Alter: Zunächst hat es mich emotional sehr mitgenommen. Nachdem ich aber angefangen habe, es rational zu verarbeiten, habe ich für mich persönlich Konsequenz gezogen: Dinge, die ich in den vergangenen zwei Jahren vernachlässigt habe, werde ich wieder intensivieren. Und ich werde mich wieder verstärkt für den interreligiösen Dialog und gegen Antisemitismus engagieren.



domradio.de: Was bedeutet der 9. November - auch der Tag, der an die Reichspogromnacht erinnert - für Sie, auch vor dem Hintergrund ihrer Erlebnisse?

Alter: Der 9. November ist  der Ausgangspunkt für die versuchte Vernichtung des europäischen Judentums, die Shoa. Das ist natürlich etwas, das mich auch emotional sehr berührt. Was aber mir widerfahren ist, ist aus einem ganz anderen Zusammenhang heraus geschehen. Deshalb würde ich keine Verbindung herstellen. Der Angriff gegen mich kam aus der Gesellschaft der Zuwanderer, der Menschen mit islamischem Hintergrund. Der relative virulente, starke und zum Teil sehr aggressive Antisemitismus in dieser Community ist in einem anderen Licht zu sehen als dieser traurige und sehr belastende Aspekt unserer Geschichte.



domradio.de: Wie würden Sie das Klima in Deutschland für Juden heute beschreiben?

Alter: Schwierig. Wir sind einem großen Maß an Antisemitismus konfrontiert. Wenn ich die Zahlen der Bundestagsdebatte vor einigen Tagen richtig im Kopf habe, kann man davon ausgehen, dass 20 Prozent der Gesamtbevölkerung latenten Antisemitismus in sich tragen, und dass es weitere 15 Prozent innerhalb der Bevölkerung gibt, die mehr oder weniger Antisemitismus mehr oder weniger offen ausleben und zum Ausdruck bringen. Das ist eine extrem große Belastung. Und es ist einfach schmerzhaft, ein sehr großes Problem für alle Menschen, die sich in Deutschland als Juden identifizieren.



domradio.de: Ermuntern Sie Ihre Gemeindemitglieder offen zu ihrer Religion zu stehen - auf der Straße eine Kippa zu tragen?

Alter: Bedingt. Ich sehe keinen Sinn darin, die eigene Gesundheit und das eigene Leben in Gefahr zu bringen, um Zeichen zu setzen. Es gibt in Berlin Stadtviertel, in denen es nicht empfehlenswert ist, sich als Jude öffentlich zu erkennen zu geben. Man kann hier ruhig das umstrittene Wort der No-Go-Area benutzen. Für Einzelpersonen ist es einfach nicht empfehlenswert, sich in gewissen Gebieten Berlins und Deutschlands als Jude identifizieren zu lassen.



domradio.de: Was wünschen Sie sich für die Zukunft für den 9. November - welche Bedeutung sollte er haben?

Alter: Ich denke an eine Inschrift in einer Synagoge in Frankfurt am Main, in der ich groß geworden bin. Dort steht in ganz großen Buchstaben: Vergeben heißt nicht vergessen. Das ist ein ganz wichtiges Motiv, vor allem mit Blick auf die junge deutsche Generation: sich von einer Schuldfrage lösen zu können. Denn Schuld ist natürlich ist auch mit Blick auf die Shoa immer eine individuelle Frage und niemals eine kollektive. Ich würde mir wünschen, dass wir gemeinsam eine würdevolle und positive Erinnerungskultur erschaffen, in der die Erinnerung präsent und keine Belastung für die nachfolgenden Generationen bleibt.



Das Gespräch führte Monika Weiß.