Ralph Giordano zu den Übergriffen auf jüdische Bürger

"Sind wir eigentlich im Jahre 1938?"

Die deutschen Juden sehen sich einmal mehr einer doppelten Bedrohung ausgesetzt: Es gab in den vergangenen Tagen Angriffe von Muslimen und Rechtsextremisten. Der jüdische Kölner Schriftsteller Ralph Giordano spricht im domradio.de-Interview von unglaublichen Zuständen und fordert eine wehrhafte Demokratie.

 (DR)

domradio.de: Was sagen Sie zu diesen Vorfällen in Deutschland, die sich allesamt gegen jüdische Mitbürger richten?

Giordano: Ich kann nur sagen: Wo sind wir eigentlich, was sind das für Bilder, die da plötzlich auftauchen? Sind wir eigentlich im Jahre 1938 oder im Jahre 2012? Nein, es ist etwas Unglaubliches, was da passiert, etwas, was ich in all meinen Publikationen seit Jahrzehnten gesagt habe und was sich jetzt bestätigt. Nämlich: Hitler und was der Name symbolisiert, ist zwar militärisch geschlagen, aber geistig, oder besser ungeistig, ist er immer noch nicht geschlagen. Wie kann man sich z.B. erklären, dass die Zwickauer Terrorzelle, eine Neonazibande quasi spazierengehender Weise 13 Jahre lang quer durch Deutschland mordet, ohne dass sie und ihr Netzwerk angeblich auffällig werden. Und als sie dann endlich entdeckt werden, fällt die Bundesrepublik aus allen Wolken ihrer Blindheit bis in die Nähe der Komplizenschaft, jedenfalls was Thüringen angeht.

Ich bin ein Überlebender des Holocausts und ich frage mich: Wie sollte ich beruhigt sein, wenn mehr als zwei Generationen nach dem Untergang Hitlerdeutschlands plötzlich der Todfeind von gestern in Gestalt einer neuen Generation auftaucht, die nicht als Fremdenfeinde oder Antisemiten geboren wurden, wohl aber im Laufe ihres Lebens dazu geworden sind? Das muss man sich einmal vorstellen. Das Gedankengut dieser Rechtsextremisten reicht bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Natürlich erschüttert es mich, wenn 13-14% der Deutschen von heute ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben und wenn 30% anfällig sind für Antisemitismus.

domradio.de: Was empfinden Sie, wenn Sie von solchen Straftaten hören?

Giordano: Ich frage mich: Wovor muss ich mich mehr fürchten, vor dem deutschen Rechtsextremismus oder den Defiziten der bundesdeutschen Schutz- und Sicherheitsorgane? Das Schlimme ist, da wird ein Bollwerk angetastet, hinter dem ich all die Jahre und Jahrzehnte hier in Deutschland lebe, erst im geteilten, dann im wiedervereinten Deutschland. Der demokratische Verfassungsstaat ist mein Lebenselixier, meine Luft zum Atmen. Die einzige Gesellschaftsform, in der ich mich sicher fühle. Etwas biographisch Kostbares, auf das sich mein ganzen Dasein stützt. Deshalb sage ich, ob Christ oder Muslim, Atheist oder Agnostiker, links oder rechts, groß oder klein: Wer die Demokratie attackiert oder gar aufheben will, der kriegt es mit mir zu tun, dem gehe ich an die Kehle, der hat mich am Hals.

domradio.de: Was wäre für sie eine angemessene Strafe für solche Jugendlichen, die so bewusst-los umgehen mit der deutschen Vergangenheit und so ignorant sind gegenüber solch massiver Verletzungen?

Giordano: Die Härte des Gesetzes und die Härte der Gesellschaft, beides ist nötig. Und vor allen Dingen müssen wir natürlich nach den Wurzeln graben. Wie kommt es, dass 70 Jahre nach dem Untergang des dritten Reiches diese Leute plötzlich auftauchen? Was ist los in einem Deutschland, in dem ganze Gemeinden unter dem Druck der Rechtsextremisten stehen und parieren, sich einschüchtern und angriffen lassen, ohne zur Polizei zu gehen. Wo sind wir eigentlich, dass so etwas möglich geworden ist? Was ist in diesem Deutschland alles fehlgelaufen, das wir heute solche Gespräche führen müssen?

domradio.de: Bei den jungen Tätern, die die zwölf Kinder vor der jüdischen Schule bespuckt hatten, sei eine Jugendliche mit Kopftuch dabei gewesen. Man vermutet, dass es ein muslimisches Mädchen war. Welche Rolle spielt das für sie?

Giordano: Hier muss Tacheles geredet werden, natürlich ohne die muslimische Minderheit unter Generalverdacht zu stellen. Das antisemitische und antiisraelische Potential in dieser muslimischen und besonders der türkischen Minderheit ist groß und überdurchschnittlich. Die Verbandsfunktionäre müssen nicht jedes Mal aufheulen, wenn man das kritisiert. Das Niederträchtigste aller niederträchtigen Totschlagsargumente ist, zu sagen, wer den Islam kritisiert oder das Integrations- und Migrationsproblem beim Namen nennt, mache die Sache der Nazis von heute. Das ist ein Totschlagsargument der Political Correctness, der Sozialromantiker und jener Leute, die sofort jede Kritik am Islam diskreditieren.

domradio.de: Bei einer Kundgebung nahe des Tatortes hatten am Sonntag rund 1.000 Berliner ihre Solidarität mit dem überfallenen Rabbiner Daniel Alter bekundet. Wie können wir alle, die Gesellschaft, antisemitischen Tendenzen vorbeugen?

Giordano: Also, ich denke, diesen Leuten muss klar die Stirn geboten werden, es muss ihnen klargemacht werden, wir sind die Stärkeren. Das geht aber nicht, wenn die Demokratie sich weiter so lau diesen Kräften gegenüber benimmt, wie sie es tut. Diese Leute lachen ja darüber.

Das Interview führte Monika Weiß.

Hintergrund
Eine Woche nach dem Angriff auf einen Rabbiner hat sich in Berlin ein weiterer antisemitischer Vorfall ereignet. Am Montagvormittag beleidigten vier bislang unbekannte Mädchen eine Schülergruppe in Charlottenburg mit judenfeindlichen Äußerungen, wie die Polizei am Dienstag bekanntgab.

Die 13 Schülerinnen im Alter zwischen 12 und 15 Jahren befanden sich auf dem Weg zu einer Unterrichtsveranstaltung in einer jüdischen Schule. Als die Gruppe auf die Öffnung der Unterrichtsräume wartete, pöbelten vier Mädchen die Schülerinnen an. Anschließend fotografierten zwei der Tatverdächtigen, die sich in Begleitung von zwei jungen Männern befanden, mit ihren Handys die Schülerinnen.

Danach entkamen die Tatverdächtigen unerkannt. Nach Polizeiangaben sind sie 15 bis 16 Jahre alt, eine der Tatverdächtigen trug ein Kopftuch. Der Polizeiliche Staatsschutz beim Landeskriminalamt hat Ermittlungen aufgenommen.